Auf den Punkt 58: Das "Perfektionismusfalle 2.0"-Zwiegespräch geht weiter

Auf den Punkt 58: Die „Perfektionismusfalle 2.0“  klassik-begeistert.de, 15. Mai 2025

Paavo Järvi © Ventre Photos

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Paavo Järvi / Dirigent

von Jörn Schmidt

In der letzten Folge habe ich Paavo Järvi  als großen Dirigenten gewürdigt. Und gleichzeitig gegenübergestellt, dass mich seine Konzerte nicht berühren. Die Antwort aus Bremen ließ nicht lange auf sich warten, Lokalpatriot Dr. Gerd Klingeberg sprang Järvi flugs zur Seite. Ich möchte Dr. Klingeberg, aber auch Ihnen, liebe Leser, nun eine Frage stellen:

Hat Sie Paavo Järvi jemals zu Tränen gerührt?

Zur Erinnerung: Die wunderbare Replik des Kollegen finden Sie hier:

Dirigent in der Perfektionismusfalle? klassik-begeistert.de, 12. Mai 2025

Was macht ein guter  Anwalt, wenn er eine Replik vor sich sieht? Genau, er lässt eine Duplik folgen. Hier natürlich mit kollegialem Augenzwinkern.

Gleichzeitig hoffend auf Triplik und Leser-Kommentare.

Duplik

In Sachen des Zwiegespräches

Dr. Klingeberg (Hansestädter)

gegen

J. Schmidt (Insulaner)

möchte ich replizieren wie folgt:

Mich hat ein Konzert von Paavo Järvi noch nie zu Tränen gerührt. Ebensowenig Sir Antonio Pappano und Klaus Mäkelä. Die Herren sind allesamt Weltstars. Viel wichtiger, die Musik liebt sie. Genies, deren Dirigate meisterhaft sind.

Ich habe mich daher gefragt, warum mich manche Konzerte berühren und andere nicht. Und glaube, dass das  Streben nach Perfektion eine Rolle spielt. Insoweit bin ich ganz bei Ihnen, lieber Kollege, jedenfalls in der Musik:

Besser mal ein Risiko eingehen und loslassen, statt perfekt sein zu wollen. Dann können  Sternstunden entstehen, die glücklich machen. Vielleicht verhält es sich damit wie mit dem Groove in der Rockmusik.

Es ist schon oft untersucht worden, warum dem Hörer ein echtes Schlagzeug in der Regel besser gefällt als virtuelle Drums. Stark vereinfacht ergaben die wissenschaftlichen Studien, dass Fehler, besser: Abweichungen  im Tempo für einen besseren Fluss der Musik sorgen. Der Computer ist einfach zu perfekt.

Zugestanden sei, dass der Grat schmal ist. Mit Schludrigkeit produziert man erst recht keine Sternstunden. Im Gegenteil, das hagelt dann zu Recht Verrisse. Auch hier bei klassik-begeistert. Da lesen Sie mal ein paar jüngere Artikel von Andreas Schmidt, unserem Herausgeber.

Aber vielleicht ist das der Grund, warum mich altersweise Dirigenten so sehr begeistern. Die wissen in der Regel viel mehr über die Partitur als ihre jüngeren Kollegen. Aus einem denkbar simplen Grund. Sie hatten einfach mehr Zeit, sich mit der Partitur zu beschäftigen.

Und vermutlich wächst im Alter die Akzeptanz, dass sich auch das größte Genie nie 100% einer Partitur erschließen kann. Zu dem Thema habe ich unlängst mit Alan Gilbert gesprochen. Lesen Sie das Interview bitte hier bei klassik-begeistert.

Mit diesem Wissen und Selbstverständnis  fällt es plötzlich leichter, loszulassen. Wenn  man schon nicht 100% Perfektion abliefern kann, dann wenigstens eine tiefenentspannte Sternstunde.

Daher, wie geschrieben, freue ich mich außerordentlich auf Paavo Järvis Alterswerk.

Jörn Schmidt, 15. Mai 2025, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Auf den Punkt 57: Paavo Järvi /Janine Jansen Elbphilharmonie, 11. Mai 2025

Janine Jansen, Violine, DKB und Paavo Järvi, Elbphilharmonie Hamburg, 11. Mai 2025

Janine Jansen Violine, Paavo Järvi  Dirigent Bremer Konzerthaus Die Glocke, 10. Mai 2025

Interview: kb im Gespräch mit Alan Gilbert Elbphilharmonie, 7. Mai 2025

4 Gedanken zu „Auf den Punkt 58: Die „Perfektionismusfalle 2.0“
klassik-begeistert.de, 15. Mai 2025“

  1. Ich sehe das genauso, wie Jörn Schmidt. Ich durfte Paavo Järvi nun schon ein paar Mal erleben und war doch jedes Mal irgendwo frustriert. Emotional waren es (zumindest so weit ich mich erinnere) immer leere Abende und das bei oft technisch hohem Niveau. Zu sehr auf Glanz poliert, könnte man vielleicht sagen?

    Bei Klaus Mäkelä fehlen mir noch die Vergleiche. Bisher habe ich ihn zu selten gehört, um einen Trend zu erkennen. Allerdings war das letzte Erlebnis bei ihm auch ernüchternd, fast enttäuschend. Insofern hoffe ich, dass sich diese Eindrücke auch mal durch positivere ergänzen werden.

    Daniel Janz

  2. Lieber Jörn Schmidt,
    nach Ihrer netten „kollegial augenzwinkernden“ Nachfrage bin ich zweifellos im Zugzwang.
    Nun ja, warum auch nicht…
    Zunächst einmal muss ich ganz nebenbei betonen, dass ich mich keineswegs als Lokalpatriot verstehe, zumal ich weder in Bremen geboren noch dort wohnhaft bin (tatsächlich liegt mein Domizil in Niedersachsen). Aber das ist selbstverständlich nur eine Marginalie ;)…
    Was ich allerdings durchaus spannend und nachdenkenswert finde, ist Ihre Frage „Hat Sie Paavo Järvi jemals zu Tränen gerührt?“
    Klingt verblüffend einfach. Ist es aber keineswegs. Zumindest nicht hinsichtlich dessen, was Järvis Dirigat ausmacht.
    Ich sehe bei der Beantwortung nämlich zwei Aspekte. Zum einen rührt mich nicht ein Dirigent/eine Dirigentin zu Tränen (allenfalls ein gewisser D.B., der es, sorry, aus eigener Kraft nicht mehr auf das Pult geschafft hat), sondern immer nur die vorgetragene Komposition. Was genau die Hörenden jeweils daran bewegt, darüber hat die Musikpsychologie bis heute noch keine endgültige Antwort parat. Muss sie vielleicht auch gar nicht haben, da es von unzähligen individuellen Faktoren, nicht selten von der Verknüpfung mit eigenen Erlebnissen und zumeist weniger von der Perfektion der Darbietung abhängt, ob bestimmte Musik die Seele berührt.
    Zum anderen ist aus meiner Sicht für die Beurteilung guter Musik nicht unbedingt die Aktivität der Tränendrüsen das entscheidende Indiz; denn Musik kann ganz einfach nur begeistern, auch ohne dass ich als Hörer gleich zum Schnupftuch greifen müsste.
    Soweit sehr kurz gefasst meine ganz persönliche Sicht der Dinge, die durchaus nicht jeder teilen muss.
    Aber allein schon Ihre Fragestellung fand ich interessant, um die eigene Einstellung mal wieder zu hinterfragen.
    Ich meine aber nicht unbedingt falsch damit zu liegen, dass wir eigentlich beide mehr oder weniger denselben Standpunkt vertreten. Oder…?

    Dr. Gerd Klingeberg

  3. Paavo Järvi ist ein herausragender Dirigent. Zu Tränen gerührt hat mich der Este LIVE noch nicht. Aber ich liebe eine Aufnahme, wo er vor Beginn des Dirigats selbst zu Tränen gerührt ist! ich höre sie immer in der Weihnachtszeit. Mehrmals! Dann kommen mir auch manchmal die Tränen…

    Andreas Schmidt, Herausgeber

    https://www.youtube.com/watch?v=Ivg8Rw8fHLM

    Obra: Cantique de Jean Racine, Op. 11.
    Compositor: Gabriel Fauré.
    Coro: Choeur de l’Orchestre de Paris.
    Orchestra: Orchestre de Paris.
    Conductor: Paavo Järvi.
    ℗ 2011 Parlophone Records Limited, a Warner Music Group Company

  4. Berührtsein als Maßstab? Über musikalische Tiefe und das, was bleibt

    Eine spannende Diskussion. Doch Tränen der Rührung – ist das wirklich der Maßstab für musikalische Größe? Ich denke, nicht. Die Tiefe einer Interpretation ist mehr als ein Moment emotionaler Überwältigung. Sie ist Ausdruck von Reife, Einfühlung, künstlerischer Wahrhaftigkeit. Und gerade daran fehlt es vielen jungen Dirigenten. Was heute medial gefeiert wird, ist oft vorrangig: Telegenität, Eloquenz, handwerkliches Geschick – keine Frage. Aber berührt hat mich da selten etwas. Klaus Mäkelä etwa – zweifellos hochbegabt – bleibt für mich ebenso seltsam glatt wie sein älterer Kollege Daniel Harding. Beides geschätzte Namen, deren künstlerisches Profil in meinen Augen überschätzt wird. Herzenswärme? Tiefer Atem? Fehlanzeige.

    Natürlich gibt es Ausnahmen. Tarmo Peltokoski etwa – bei ihm spüre ich bereits jetzt eine Ernsthaftigkeit, eine gestalterische Neugier, die weit über Hochglanz hinausgeht. Oder Kahchun Wong: auch er hat mich mit seinen Dirigaten ehrlich bewegt.

    Und dann Paavo Järvi. Eine ganz andere Liga. Gereift, eigenständig, frei in seinem musikalischen Denken – und oft von bezwingender Intensität. Ja, er hat mich zu Tränen gerührt. Zwei Erlebnisse haben sich mir eingebrannt. Das eine war Sibelius’ Siebte – seine Lieblingssinfonie. Als ich sie unter seiner Leitung hörte, war es beim großen Posaunenruf um mich geschehen. Tränen. Ein Moment von geradezu archetypischer Wucht, und zugleich von solcher Klarheit, dass ich ihn nie vergessen werde.

    Das zweite: die Zweite Sinfonie von Sibelius, in Paris. In der Coda ließ Järvi den Paukisten eine Variante spielen, die nicht auf der CD von Järvi zu finden ist, aber auf YouTube dokumentiert wurde. Sie geht auf Serge Koussevitzky zurück, den Sibelius hochschätzte. Er war so angetan von dieser Fassung, dass er sie in späteren Partituren festhalten wollte – was nicht mehr geschah. Järvi gab ihr Raum. Und es war, als würde man durch ein kleines Fenster in eine andere, kaum gekannte Deutung blicken.

    Und auch gestern wieder: Beethoven, das Violinkonzert, Janine Jansen, Paavo Järvi. Ein Abend, der nicht von dieser Welt war.

    Dirk Schauß

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