Alan Gilbert, conductor © Marco Borggreve
Wir haben 4 Karten für die Elphi in Hamburg verlost: Für die Oper Wozzeck von Alban Berg. Für Freitag, 23. Mai, und Sonntag, 25. Mai. Die Gewinnerinnen stehen jetzt fest. Es sind Sonja Kraschin und Corinna Richter. Beide leben in Hamburg.
Wozzeck feiert Hundertjähriges, Alban Bergs Oper hatte am 14. Dezember 1925 an der Berliner Staatsoper Unter den Linden Premiere. Alan Gilbert bringt die mörderische Persönlichkeitsstudie am 23. und 25. Mai 2025 in der Elbphilharmonie im Hamburger Hafen auf die Bühne. Vorausgegangen sind Aufführungen an der Royal Swedish Opera. Anlässlich der dortigen Dirigate hat Gilbert Wozzeck als eine der größten Opern überhaupt eingeordnet: Äußerst präzise und in der perfekten Balance von Intellekt und Seele auch ungeheuer ausdrucksstark. Wir haben diese Einschätzung vertieft.
Jörn Schmidt im Gespräch mit Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters
klassik-begeistert: Brahms, Bruckner und Mahler haben im Grunde keine eigene Oper hinterlassen. Was macht einen Komponisten zum Opernkomponisten?
Alan Gilbert: Auch wenn eine solche Unterscheidung dogmatisch problematisch ist, möchte ich die Frage herunterbrechen auf die Unterschiede von Programmmusik und Absoluter Musik. Oper ist Programmmusik, sie erzählt eine Geschichte. Absolute Musik folgt ausschließlich ihren eigenen Regeln. Wenn man so will war Anton Bruckner ein Meister Absoluter Musik…
klassik-begeistert: Ist ein Komponist Experte für Absolute Musik, dann tut er sich zuweilen mit Programmmusik schwer. Kamm man das so sagen?
Alan Gilbert: Ja, das könnte eine Erklärung sein. Es war sicher kein Missgeschick, dass Bruckner kein Opernkomponist geworden ist.
klassik-begeistert: Was aber befähigt zum Opernkomponisten?
Alan Gilbert: Es ist wichtig, die Handlung, die Worte, ebenso die vielen Gefühle eines Dramas oder eine Komödie auch im Orchester zum Klingen zu bringen. Und zwar so, dass man Handlung, Worte und Gefühle ohne Libretto oder sonstige Vorkenntnisse verstehen kann. Mozart war so ein Meister. Wagner und Verdi auch. Schubert eher nicht.
klassik-begeistert: In Deutschland nimmt man Sie eher als Konzertdirigent wahr. Dabei sind Sie Musikdirektor der Royal Swedish Opera. Wann steigen Sie in Deutschland wieder in den Orchestergraben?
Alan Gilbert: Oper ist sehr zeitaufwändig, eine Produktion erfordert ohne Weiteres 6 bis 8 Wochen Vorlauf. Wenn man nebenher Zeit für Frau und Kinder haben möchte, wird das schnell schwierig. Aber lassen Sie sich bitte überraschen, ich befinde mich derzeit in Gesprächen mit mehreren renommierten deutschen Opernhäusern über mögliche Engagements als Gastdirigent für ausgewählte Produktionen…
klassik-begeistert: Wenn man die Oper das erste Mal hört, ist Wozzeck nicht unbedingt leichte Kost. Das Bühnengeschehen kann helfen, sich das Werk zu erschließen. Funktioniert das in der Elbphilharmonie, und wie steht es dort mit der Akustik?
Alan Gilbert: In der Elbphilharmonie funktioniert selbst Richard Wagner, den besten Siegfried habe ich dort erlebt. Mit Michael Volle als Wanderer und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Sir Simon Rattle… Man muss nur den gesamten Saal nutzen, Bühne und Ränge. Klanglich wie schauspielerisch.
klassik-begeistert: In der gängigen Lesart ist die Titelfigur ein bemitleidenswerter Naivling. Jemand, der Demütigungen einsteckt, bis er ausrastet. Tatsächlich steuern alle Handlungselemente auf den Mord zu. Ist das wirklich so einfach, oder steckt in Wozzeck viel mehr Charakter?
Alan Gilbert: Dazu ist schon viel gesagt und auch inszeniert worden. Ich sehe einen anderen Zugang und frage mich, wie viel Druck von außen braucht es, um einen Mord zu begehen… ob man seine Partnerin umbringt, das ist doch keine Frage, wie intelligent man ist?
klassik-begeistert: Wer jetzt denkt, das Drama fasziniert mich. Und natürlich ist die Oper ein Meisterwerk. Aber 90 Minuten hochexpressive Atonalität und Zwölftonmusik. Das stehe ich nicht durch. Wie zerstreuen Sie derlei Bedenken?
Alan Gilbert: Keine Angst vor Wozzeck! Atonalität, Zwölftonmusik und Serielle Musik sind nur eine Technik, ein Mittel zum Zweck. Wie Johann Sebastian Bach seine Technik hatte, einen ganz bestimmten Klag zu erzeugen, der ihm vorschwebte. Oder Richard Wagner…
klassik-begeistert: Berg verwendet musikalische Themen als Leitmotive, so wie Wagner. Ganz im Geiste der Spätromantik?
Alan Gilbert: Wenn Sie Tonalität als Beziehung zwischen Tönen, Klängen und Akkorden verstehen, aus denen eine Oper entsteht. Dann können Sie Wozzeck in der Tat wie eine spätromantische Oper hören. Darum hat Alban Berg wie auch Arnold Schönberg den Begriff Atonalität abgelehnt. Beide sahen ihre Musik keineswegs als Abkehr von der Tonalität, sondern als deren Fortentwickelung.
klassik-begeistert: Apropos Evolution. Berg verwendet musikalische Formen vom Barock bis zur Spätromantik. Passacaglia, Suite und so fort. Allein, man hört das nicht so recht heraus. Ist die Formstrenge Selbstzweck?
Alan Gilbert: Musik soll Gefühle hervorrufen, unabhängig von der Form. Wenn man das so sieht, war ich kurzfristig versucht, mit Ja zu antworten… Aber Bergs Formstrenge ist kein Selbstzweck, sondern Teil seiner kompositorischen Technik und damit wichtig für das Klangbild.
klassik-begeistert: Jenseits der musiktheoretischen Definitionen von Tonalität und Atonalität, bietet Wozzeck dem Hörer eingängige Melodien?
Alan Gilbert: Nun, Sie finden bei Berg keine solchen Melodien wie bei Antonín Dvořák. Andererseits, auch bei Beethoven ist nicht alles nur melodisch. Dort gibt es Passagen ohne jegliche Melodie in dem Sinne, wie Sie das gerade angesprochen haben. Statt nach Melodien zu suchen, nähern Sie sich Wozzeck bitte über das Wort…
klassik-begeistert: Als ob es Filmmusik wäre?
Alan Gilbert: Ja, genau so. Die Handlung der Oper ist kurz und glaubwürdig. Während Sie die Handlung entlang der Worte erfassen, macht die Musik die an der Handlung anknüpfenden Gefühle hörbar. Gereiztheit, Anspannung, Romantik und Entschlossenheit zum Beispiel werden so im Orchester erlebbar.
klassik-begeistert: Für die Hamburger Aufführungen konnten Sie den Wozzeck schlechthin gewinnen, den deutschen Bariton Matthias Goerne. Im Vorfeld des Auftritts hat Goerne gesagt, dass es im Grunde unmöglich ist, sich einen Notentext wie eben den des Wozzeck hundertprozentig zu erschließen. Bei wieviel Prozent Wozzeck sind Sie?
Alan Gilbert: Eher niedrig, vielleicht bei 50%… Aber Sie wollen meine Antwort nicht wirklich so veröffentlichen?
klassik-begeistert: Also wenn ich hinzusetze, dass ich vor unserem Gespräch bei 0,0005% war…?
Alan Gilbert: [lacht] OK… 100% wird niemand schaffen, die letzten Prozent sind die Schwierigsten.
klassik-begeistert: Goerne hat in seinem Wozzeck-Interview mit dem Elbphilharmonie Magazin betont, wie wichtig für ihn die Qualität des Librettos ist. Wenn das nicht passt, würde er sich nicht um die Rolle reißen. Weil ihm ein schlechtes Libretto einfach keinen Spaß macht. Da könne die Musik noch so brillant sein. Denken Sie ähnlich – würden Sie, um beim Beispiel von Matthias Goerne zu bleiben, jetzt noch einen Il Trovatore auf die Bühne bringen wollen?

Alan Gilbert: So streng wie Matthias sehe ich das nicht. Aber ich werde auch älter [lacht]. Da überlegt man sich ganz genau, wofür man seine Zeit einsetzt. Ein schwaches Libretto steht da nicht mehr ganz oben auf der Liste.
klassik-begeistert: Sollte man vor dem Opernbesuch eine CD hören – oder ist es ratsamer, den ersten Zugang live zu suchen?
Alan Gilbert: Live ist immer besser…Aber wenn Sie sich wirklich gut vorbereiten möchten, dann würde ich bei Wozzeck mit dem Wort anfangen. Einfach das fantastische Libretto lesen und dazu die großartige Musik hören. Es ist vielleicht der einzige Nachteil der Partitur, dass sie keine hundertprozentige Textverständlichkeit ermöglicht. Selbst den größten Sängern nicht.
klassik-begeistert: Mögen Sie unseren Lesern eine Wozzeck-Einspielung empfehlen?
Alan Gilbert: Claudio Abbado. Die Aufnahme hat ihre Schwächen, aber Claudio fängt den Geist der Oper am besten ein.
klassik-begeistert: So etwas wie die hübscheste Frau der Welt gibt es nicht, das sieht jeder anders. Die Hamburger aber wissen, sie seien Bürger der schönsten Stadt der Welt. Bitte beschreiben Sie mit wenigen Worten, warum Hamburg für Sie die schönste Stadt der Welt ist…
Alan Gilbert: Weil ich zu Hamburg eine besondere Beziehung habe, ich dirigiere hier seit 2001. Und weil Hamburg ein wunderbarer Platz für großartige Musik ist. Und auch, weil hier Natur und Großstadt in guter Balance sind.
klassik-begeistert: Mr. Gilbert, es war uns ein Vergnügen und herzlichen Dank für das Gespräch!
Jörn Schmidt, 7. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm für die Saison 2025/26 Elbphilharmonie, 24. April 2025
Alban Berg, Wozzeck, Oper in drei Akten (15 Szenen), Wiener Staatsoper, 27. März 2022