„Trotz der wunderbaren Klavierkonzerte von Tschaikowsky, Schumann, Grieg und den Nummern 1 und 3 von Beethoven ist mir op. 37 das Liebste geblieben. Wie revolutionär die eröffnende Kadenz 1811 war, ist mir erst als Jugendlicher klargeworden.“
von Andreas Ströbl
Es dürfte im Sommer 1968 gewesen sein, als meine Eltern mit mir in unserem klapprigen R4 für einen Ausflug ins Augsburger Umland fuhren. Die Sonne strahlte, und ich trällerte auf der Rückbank das 2. Thema des 1. Satzes aus Beethovens 5. Klavierkonzert. Mein Vater war begeistert und forderte mich zur Wiederholung auf. Dem kam ich aufgrund kindlicher Verlegenheit nicht nach, aber die Erinnerung war gespeichert: Opus 37 in Es-Dur leuchtet für mich seitdem synästhetisch in hellem Orange.
Meine Eltern haben mich nie gezwungen, irgendeine Art von Musik zu hören oder gut finden zu müssen, aber es lief zumindest am Sonntagvormittag immer irgend etwas aus dem bildungsbürgerlichen Kanon wie Bachs „Brandenburgische Konzerte“, Symphonien von Mozart oder Beethoven und Schubert. Hatten meine Eltern Gäste zum Abendessen, wurde gerne das genannte 5. Klavierkonzert aufgelegt. Ich lag im Bett und hörte den beruhigenden Mischklang aus Geplauder und Musik. Da war dann die Welt in Ordnung. Musik vor allem aus dem 18. und 19. Jahrhundert begleitete meine Kindheit mit einer ungezwungenen Selbstverständlichkeit.
Die Vorpubertät brachte dann ABBA ins Haus; ich war wie die Hälfte der männlichen Fans in Agnetha Fältskog verknallt (die andere Hälfte stand auf Frida Lyngstad). Wenig später kamen dann Manfred Mann, Queen und Pink Floyd. Aber die Pop-Musik war tatsächlich nur eine 70er-Jahre-Phase, der klassische Keim bahnte sich seinen Weg durch das jugendliche Sein.
Die Klavierstunden hatten allerdings nicht zu einer virtuosen Beherrschung des Pianoforte geführt. Die eine Klavierlehrerin war völlig humorlos und stank so sehr, dass man sich eine meterlange Klaviatur gewünscht hätte, um nicht so dicht neben ihr auf dem Schemel sitzen zu müssen. Die andere war zwar ausgesprochen liebenswert, quälte mich aber so hartnäckig mit Bartóks „Mikrokosmos“, dass ich den Unterricht bei ihr verließ. Viel später durfte ich erfahren, was für wunderbare Werke dieser Komponist geschaffen hat. Mein Bruder ist ein sehr guter Improvisator auf dem Klavier geworden, aber auch er denkt mit Schaudern an den „Mikrokosmos“ mit Makro-Mühen zurück.
Die Adoleszenz brachte die spätromantische Schwere mit Bruckner, Wagner und vor allem Gustav Mahler. Wo andere Eltern Sorge hatten, dass ihr Kind den Drogen zusprechen könnte, machte sich meine Mutter Gedanken darüber, ob zuviel Bruckner mein Gemüt verdüstern möge. Aber dem stand ja das Leichte gegenüber, wie zum Beispiel Mendelssohn, den einige meiner Schulkameraden 1982 mit Woody Allens „Sommernachts-Sexkomödie“ entdeckten. Der Film ist kein Meisterwerk des Regisseurs, aber er hatte durch die ironische Brechung tatsächlich Verführungskraft, hin zur Musik. Das funktionierte besser als manch altbackene Versuche, Jugendlichen klassische Musik als wertvoll zu verkaufen und im gleichen Zuge Popmusik als kulturell minderwertigere Ausdrucksform zu schmähen
Über die gleichermaßen antiquierte Unterscheidung in E- und U-Musik hätte sich Mozart gewundert, bestenfalls amüsiert. „Mozart für Kinder“ sind zum Beispiel CDs betitelt, die den Kleinen den Großen schon im Krabbelalter vertraut machen wollen. Das ist sicher gut gemeint, hat aber mitunter etwas Bemühtes und man entschlägt sich kaum des Verdachts, dass die Mozart´sche Musik die musische Begabung des Kindes so fördern möge wie die Milchleistung von Kühen, denen man die Haffner-Symphonie oder das Klarinettenkonzert vorspielt. Was da in Kuh- oder Laufstall unbewusst Synapsen und Milchdrüsen anregen mag, sei dahingestellt.
Ich habe mich gefreut, als meine damals dreijährige Tochter das Stück „Doven-Frau-singt“ immer wieder mal hören wollte. Verdolmetscht hieß das: „Beethoven-Frauenstimmen“ und gemeint war der Schlusschor aus der 9. Symphonie. Herzallerliebst war es, als sie während einer Autofahrt begeistert war, das Stück „Waka-Zwerge-pling-pling“ wiederzuerkennen. In ihrer Sprache hieß das „Wagner-Zwerge machen Geräusche“ und da ging es dann ab nach Nibelheim. Derzeit hört sie Musik von Interpreten, deren Namen ich noch nie gehört habe und deren Songs, sagen wir mal, nicht meine Lieblingsmusik werden. Was sie in einigen Jahren hören wird, ist ihre Sache, und wenn wir irgendwann mal gemeinsam in der Oper sitzen sollten, wäre ich glücklich. Wäre dem nicht so, täte das der väterlichen Liebe auch keinen Abbruch.
Das Synästhetische ist eine Gabe, von der ich nur eine Ahnung habe, aber es ist sicher immer einen Versuch wert, damit zu spielen. In einem Seminar, in dem es auch um Ornamentik und Stilistik ging, habe ich einmal versucht, den Studentinnen und Studenten ein Gefühl für die Zier-Moden zu vermitteln, indem ich so etwas wie Zeitgeist-Empfindungen beschwor. Die eher strenge Zier des protestantischen Barock verglich ich mit Bachs Werken, die asymmetrische Verspieltheit des Rokoko mit Mozart. Das für Klassizismus und Empire charakteristische feierlich-strahlende Gepräge schien Beethovens Musik untermalen zu können, am passendsten wohl das 5. Klavierkonzert.
Trotz der wunderbaren Klavierkonzerte von Tschaikowsky, Schumann, Grieg und den Nummern 1 und 3 von Beethoven ist mir op. 37 das Liebste geblieben. Wie revolutionär die eröffnende Kadenz 1811 war, ist mir erst als Jugendlicher klargeworden. Vor wenigen Tagen unterhielten meine Frau und ich uns mit der Pianistin Sofja Gülbadamova, selbstverständlich im Abstand, wie ihn die Ära Corona gebietet. Harmonische Einigkeit herrschte über die tiefgründige Aufnahme des eingangs genannten Themas durch die Hörner, die in ihrem sehnsuchtsvollen Ruf einen der ersten grünen Bäume auf dem Waldweg der romantischen Musik grüßen.
Da an diesem Tag nicht nur weitere Einzelkonzerte, sondern auch das gesamte Schleswig-Holstein Musik Festival abgesagt worden war, beherrschte ein trauriger Unterton das Gespräch. Bleibt also nur die Vorfreude auf all die Veranstaltungen, die hoffentlich wie Wüstenblumen nach der Trockenperiode aus dem regennassen Boden schießen werden. Großartig wäre das 5. Klavierkonzert in der Lübecker „MuK“ (Musik- und Kongresshalle) mit den Lübecker Philharmonikern, Stefan Vladar auf dem Dirigentenpult und Sofja Gülbadamova am Klavier. Gleich zu welcher Jahreszeit, es wird für mich in sommerlichem Orange strahlen.
Dr. Andreas Ströbl, 22. April 2020, für
klassik-beigeistert.de und klassik-begeistert.at