„Pergolesis Stabat Mater ist ein fortwährender Begleiter meines Lebens. Das Musikstück löst intensive Gefühle in mir aus, lindert Schmerz und spendet Kraft.“
von Frank Heublein
Am 7. Februar 1990 trat dieses Stück Musik in mein Leben. Mit „Inflammatus et accensus“ als open-credit-Musik des Films „Jesus von Montreal“. Christine Ann-Atallah und Valérie Gagné waren die beiden Sängerinnen, die auch während der Eröffnungssequenz des Films gezeigt werden. Der Film handelt von einem Schauspieler, der den Jesus in einem Passionsspiel spielen will. Der Schauspieler versenkt sich immer tiefer in die Rolle hinein. Irgendwann vermischen sich Passionsspiel und reale Filmhandlung. Das Thema der Wiederauferstehung ist damit auch ein essenzielles in der Filmhandlung an sich. Ich spoilere nicht weiter. Lassen Sie sich überraschen, wie der franco-kanadische Regisseur Denys Arcand das Thema neuzeitlich interpretiert. Auch Pergolesis Stabat Mater findet sich tief verwoben in die Filmhandlung am Ende wieder auf der Tonspur.
Der Text des Inflammatus et accensus ist eine Art Kurzfassung des Drehbuchs des Films.
Inflammatus et accensus,
Per te, virgo, sim defensus
In die iudicii.
Fac me cruce custodiri,
Morte Christi praemuniri,
Confoveri gratia
Dass mein Herz, von Lieb entzündet,
Gnade im Gerichte findet,
sei du meine Schützerin!
Mach, dass mich sein Kreuz bewache,
dass sein Tod mich selig mache,
mich erwärm sein Gnadenlicht,
Wenn ich also Inflammatus et accensus aus dem Stabat Mater von Pergolesi höre, erinnere ich mich zugleich an diesen Film. Immer. An die Art, wie die Leidenschaft des Jesus-Darstellers die Wirklichkeit für seine Mitmenschen verändert. An meinen eigenen versteckten Traum eine solche Veränderung zu erzeugen? Mindestens mäßig utopisch dieser Traum. Und doch, im Moment des Hörens von Pergolesis Stabat Mater wird für mich die Möglichkeit spürbar, die Wirklichkeit zu verändern, zu bewegen. Ich verspüre Handlungskraft. Starke positive Energie überträgt sich mir durch diese Musik.
Kurz nach dem erwähnten Kinogang habe ich mir meine erste Einspielung gekauft – mit Mirella Freni und Teresa Berganza als Sängerinnen. Ein paar Jahre später stieß ich auf meine aktuelle Lieblingsfassung mit Emma Kirkby und James Bowman.
Das Stabat Mater war eins der ersten Stücke, das mir offensichtlich machte, wie unterschiedlich man Musik interpretieren kann. Die beiden Einspielungen dauern 42 Minuten und 37 Minuten. Im direkten Vergleich lässt sich die unterschiedliche Herangehensweise gut heraushören. So hat mir Pergolesis Stabat Mater beigebracht, dass Musik immer wieder neu interpretiert und entdeckt werden kann. In jeder Interpretation steckt mindestens ein Hauch Wiederauferstehung. Die Komposition wird lebendig. Eine wunderbare Spannung, eine neue Interpretation zu hören. Neben dem Bekannten das Neue, bisher Unentdeckte zu hören, das mir womöglich ein neues Zimmer meines Inneren aufzuschließen vermag.
Pergolesis Stabat Mater ist ein fortwährender Begleiter meines Lebens. Das Musikstück löst intensive Gefühle in mir aus, lindert Schmerz und spendet Kraft. Hat mich in die wunderbare Welt der Stabat-Mater-Kompositionen eingeführt. Es erweitert mein Leben.
Pergolesi ist nicht der einzige Komponist, der diesen religiösen Text vertont hat. Mit ihm begann meine bis heute andauernde Leidenschaft, Stabat-Mater-Kompositionen zu sammeln. Ich stöbere ab und an in der wundervollen Musikabteilung eines Kaufhauses am Münchner Marienplatz und stoße auf eine mir unbekannte Komposition. Ich höre sie mir an (man darf das da, auch zur Gänze, wenn man mag) … und wenn sie mir gefällt, dann kaufe ich mir die Einspielung.
Irgendwann wollte ich wissen, wie viele Komponisten das Stabat Mater vertont haben. Ich entdeckte, dass meine Sammelleidenschaft – sollte ich sagen glücklicher Weise? – nicht exzessiv zu sein scheint. Der Niederländer Hans van der Velden hatte die Passion, alle Kompositionen und Einspielungen aufzuspüren. Seine Frau führt in seinem Gedenken und Sinn die Webseite stabatmater.info weiter. Das Eldorado aller Stabat-Mater-Fans.
Sie fragen sich vielleicht noch, warum ich das Datum meines ersten Kontakts mit Pergolesis Stabat Mater exakt weiß? Ich führe Kinotagebuch. Mittlerweile habe ich 2262 Vorstellungen im Kino besucht. Musik wie Kino bringen Gefühle in mir zum Schwingen. Gefühle, denen ich mich selten so intensiv jenseits des Kino- oder Konzertsaals hingeben kann. Wünsche ich mir etwa, sehr bald wieder auf Tüten knisternde, Popcorn knackende oder Bonbonpapier raschelnde Mitseher und Mithörer zu stoßen? Wie verrückt! Ja, das tue ich, sehr sogar.
Frank Heublein, 10. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at