Foto: © Werner Kmetitsch: Andrés Orozco-Estrada
Elbphilharmonie Hamburg, 25. September 2022
Andrés Orozco-Estradas Interpretationen gehören stets zu den begeisterndsten der heutigen Zeit, mit Mahler und Schostakowitsch war auch das Programm eins der Extraklasse. So feurig hat das NDR Elbphilharmonie Orchester schon ewig nicht mehr gespielt!
NDR Elbphilharmonie Orchester
Andrés Orozco-Estrada, Dirigent
Matthias Goerne, Bariton
Werke von Gustav Mahler und Dmitri Schostakowitsch
von Johannes Karl Fischer
Dieses äußerst dynamische Dirigat holt selbst aus diesem – sonst öfters etwas lustlos spielendem – Orchester die emotionalsten aller Klänge heraus. Schostakowitsch 5, ein musikalischer Meilenstein im Kampf gegen die repressive sowjetische Kulturpolitik. Diese Musik ist – gerade angesichts des Weltgeschehens wenige Tausend Kilometer weiter östlich – per se höchst emotional. Sie erregt Gefühle, die man mit Worten nicht beschreiben kann – möchte man vielleicht auch gar nicht – und ausnahmsweise auch nicht der Liebe gehören. Trauer, Triumph, Tragik, das ist die Essenz dieser Sinfonie. Still sitzen kaum möglich.
Die eingängliche Begeisterung des Publikums – angetrieben durch eine rührende Darbietung der Mahler’schen Wunderhorn Lieder – ist noch nicht vorbei, da zeigt der ehemalige Chef der Wiener Symphoniker, wo’s lang geht: Mit voller Wucht lässt er die Celli in den Applaus reinspielen, fasst sofort die Aufmerksamkeit des ganzen Saals. Eine zutiefst innerliche Erzählung, all die Wut, die Gedanken, die Schostakowitsch nie in Worte fassen durfte, werden in dieser Musik ausgedrückt. Eine Geschichte, die aktueller nicht sein könnte.
Das langsame Largo an dritter Stelle ist wie ein wunderschöner Traum inmitten der äußerst beunruhigenden Zeiten, in denen die Sinfonie spielt. Die letzte Prüfung des kolumbianischen Ausnahme-Dirigenten – konnte er bislang vor allem mit kecken und energetischen Klängen überzeugen – und wie er sie mit Bravour meistert! Ewige, weit geschwungen Landschaften voller Frieden, da braucht es anschließend einige Moment schweigender Stille, um wieder in die reale Welt des Finales zu kommen.
Dort kann er die volle Flamme seines Dirigats entfalten, diese Momente gehören zu den mitreißenden, die ich in der Elbphilharmonie erlebt habe. Der Schluss – dessen triumphaler Effekt, wie schon im Programmheft erläutert wird, täuscht – ist wie eine Hommage an die kraftvollen, edlen Schlussklänge der dritten Sinfonie von Gustav Mahler. Vor allem Omar El Abidins Paukenschläge erinnern deutlich an das einzigartige Adagio des ehemaligen Hamburger Operndirektors.
Mahler… da war doch was? Stimmt, denn solch ein monumentales Werk der russischen Romantik braucht eine ebenbürtige Einführung. Die Wunderhorn-Lieder – eine wunderbare Wahl an dieser Stelle. Ob himmlische „Rheinlegenden“, die eher scherzhafte „Antonius von Padua“ oder das weniger himmlische – bekanntlich von einem verhungernden Kind handelnde – „Irdische Leben“: Diese Musik malt Bilder wie die farbenfrohsten Filme.
Das liegt nicht nur an der genialen Musik des österreichischem Jahrhundert-Sinfoniekomponisten, sondern auch an der Darbietung des Baritons Matthias Goerne. Er singt, als würde er jedes einzelne Lied schauspielern. Zeitlose Momentaufnahmen, man wird in die Handlung der Texte hineinversetzt. Das war Musiktheater ohne Bühnenbild! So nach dem Motto: „Sieben Opernszenen für konzertanten Gesang und Orchester“.
Ein advocatus diaboli würde sagen, „Moment, das kenn ich, und da stimmt doch was nicht in der Klarinette“. Ja, zwei der Wunderhorn-Lieder hat Mahler in seiner zweiten Sinfonie verwendet. Und ja, wenn man die im Ohr hat, fehlt einem die quietschige Es-Klarinette. Die sinfonische Fassung klingt nochmal göttlicher, üppiger, vollendeter. Kann man das auch in der reduzierten Liederfassung hinbringen? Vielleicht, und vielleicht hätten auch Roland Greutter und Co. lieber die große Version gespielt. Aber bitte, was ist die Fischpredigt schon ohne Bariton-Solo?
So oder so, eine wahre Freude, dass mit Andrés Orozco-Estrada endlich ein Dirigent am Pult steht, der auch das musikalisch Exzellente aus diesem gewohnt technisch sehr sauber spielenden Orchester rausholt!
Übrigens: Anders als bei so einigen Elphi-Konzerten hat sich das Publikum hier sehr wohl benommen: Kein einziger Zwischenapplaus, keine Spur von störenden Geräuschen im Saal. So möchte man gerne Musik im Musiktempel der Hafenstadt hören. Ob das Messiaen-Publikum ein gänzlich anderes ist als jenes bei Schostakowitsch?
Johannes Karl Fischer, 25. September 2022 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Seltsam. Bei dem Konzert in Kiel am Vorabend mit gleichem Programm war weder das Orchester in keinem der beiden Stücke besonders spielfreudig und auf keinen Fall besonders präzise, noch der so hoch gelobte Bariton auch nur annähernd überzeugend. Vor allem die so hervorgehobene schauspielerische Umsetzung der Inhalte erschöpfte sich in Hand und Körperbewegungen, die einen imaginären Schubkarren immer von rechts nach links schoben, unterbrochen durch ein gelegentliches Fassen an die Nase – ausnahmslos bei jedem Lied. Der Text war durch eine sehr verquollene Tongebung nicht verständlich – manche Töne der sicher sehr exaltierten Stücke rutschten ihm, gerade in der Höhe, regelrecht aus der Textur – und insgesamt hatte man den Eindruck, dass seine guten Tage als Sänger wohl schon lange vorbei sind.
Michaela Szepansky