Bildquelle: © Joshua Bell
Elbphilharmonie, 1. September 2023
NDR Elbphilharmonie Orchester
Joshua Bell, Violine
Alan Gilbert, Dirigent
PROGRAMM
Henri Dutilleux
Métaboles für großes Orchester
Jake Heggie, Jennifer Higdon, Edgar Meyer, Jessie Montgomery, Kevin Puts
The Elements – Suite für Violine und Orchester (Uraufführung)
Igor Strawinsky
Le sacre du printemps / Bilder aus dem heidnischen Russland
von Harald Nicolas Stazol
„Das war ein Gehämmer und Gestampfe!“ – „Darf ich Sie zitieren? Anonym?“ – „Anonym immer, ein Getöse und Gestumpfe! Und die Hamburger stehen!“ – der stattliche Herr, man hat sich am Baumwall am Programmheft erkannt, und bei jedem seiner Ausbrüche nickt seine im Twin-Set WIRKLICH elegante Gattin geradezu vehement, „oder fanden Sie das gut?“ Da will ich doch das beste Orchester der Stadt gerade für unser unübertreffbares Schlagwerk über die Elbe loben.
„Sakra, der Sacre!“, denk ich schon, mein Heiligtum, mein Goldenes Kalb! Wie habe ich die Eröffnung der Saison, die Opening Night an diesem schicksalhaften Datum des 1. September geradezu herbeigefiebert! Und ich denk schon, ich hab den blues, aber es gab noch nicht mal nen Sommer…wofür sich in Abendgarderobe werfen, wie ohne Gardiner leben (aber das ist z.Zt. eine andere Frage), wohin flanieren?
Erlösung!
…und so ist es wunderbar lau heute Abend, immer wieder ist es schön zu betrachten, wie sich ab „Hoheluft“ der Waggon füllt mit Elphi-Gänger:Innen, im Sonntagsstaat, man kommt schon vom Eppendorfer Baum, hier wird gesächselt, dort in einer skandinavischen Sprache gesprochen – oft fahre ich den Lift ins Foyer des Westin Grand, gucke mir Touristen an, die von der Plattform aus gucken oder mich angucken, um dann durch die Drehtür vor die Treppen meines Heiligtums zu treten, mein Billet vorzuweisen, um zu denken, „Dutilleux, Dutilleux, Dutilleux“, und ja, ich habe Angst.
Dutilleux. Man ist versucht, mit „Gesundheit!“ zu antworten: Henri Dutilleux (* 22. Januar 1916 in Angers; † 22. Mai 2013 in Paris) war ein französischer Komponist, der außerhalb moderner Kompositionstendenzen große Erfolge verbuchte.
Ich würde mal sagen: Ziemlich außerhalb.
Sehen Sie, wenn Sie Ihrem iPhone sagen, „Dutilleux“, dann kriegen Sie U2 „Bloody, bloody Sunday“.
Nun gut, musikalisch-onomatopoetisches, es wird lautmalerisch, in der Tradition von Debussy und auch Ravel, mit einer Prise Saint-Saëns, scheint da auf, die Satzbezeichnungen lassen ja ahnungsvoll mitdenken,
Incantatoire (Largamente – attacca), Linéaire (Lento moderato – attacca), Obsessionel (Scherzando – attacca), Torpide (Andantino – attacca),
Flamboyant (Presto) –
ja, muss ich noch mehr sagen? Attacke!!!
– aber gefällig fürs Ohr? Da radelt der Kritiker mit „Métaboles“ im Ohr zu Aldi und denkt sich, vielleicht doch lieber den Danse Macabre (den ich von Bell gerne mal hören würde, vielleicht mit den Unseren sogar?)…
Denn dass dieser Mann im besten Alter unserer Stadt nun als „Artist in Residence“ verpflichtet ist – nun, manchmal haben sogar Hanseaten mehr Glück, als Verstand.
Oh Alan, mein Alan! Brahms, Brahms, Brahms, damit muss man die Hanseaten doch abholen können? Ein wenig zärtlich sein? Da sitzen wir nun alle und freuen uns auf den Abend, und es ist, als nähmest Du das Dinner auf der Titanic, und plötzlich steht Dutilleux im Weg.
Aber wir haben ja Joshua Bell. Ach Joshua, mein Joshua, was haben wir Dich lieb und gern, und wenn sogar der Herausgeber, zugegebenermaßen gerade aus Dänemark angereist und (fast) in Ölzeug, so gelb, dass meine Nelke am Revers verwelkt, flüstert, er, der solches in Benimm-Kolumnen geradezu kategorisch untersagt: „So gut Geige muss man erst mal spielen können!“
Manchmal hat sogar ein Chef mal recht.
Pablo Casals wird einmal gefragt, warum er noch übe. „Ich sehe noch Raum zur Vollkommenheit“, antwortet das göttliche Cello.
Bei Bell sehe ich keinen mehr.
Ich höre ihn auch nicht.
Ich werde es wohl als eine der vielen Gnaden meines Lebens betrachten – I had some good Innings – diesen Menuhin 2.0 auf dem Wege zur Vollkommenheit zu hören. Weit ist er davon jedenfalls m.E. nicht mehr entfernt.
Für seine Vita muss man dreimal nach unten scrollen, und heute Abend hat er fünf einzelne Sätze in einzelnen roten Kladden an der Zahl sich an-den-Leib komponieren lassen, ihm und seiner Gibson Stradivarius, die mit ihm geradezu verwachsen ist, währen er in für einen 56-jährigen mutig-engen, schwarzen Jeans beide Beine manchmal so sehr in den Boden stemmen muss, bei Jake Heggie und ihrem „Fire“, dass man auf die Stabilität des hellteuren Parketts hofft.
Also: Die fünf Elemente sind nun welterstmal gerade vertont, das eine schöner und programmtisch-ästhetisch-mitreißender als das andere, alles eben Tondichter aus dem angelsächsischen Bereich, ich wies schon darauf, und was haben wir? Dutillieux.
Sehen Sie, es ist so, und vielen Auftraggebern scheint das nicht bekannt: Ein Kritiker, der den Namen verdient, hört sich mindestens zwei/drei Tage früher andere Aufnahmen des Gebotenen an. Nun gut, Sakra – den Sacre kann ich auswendig, aber: Karajan, Muti, Chailly, all jene höre ich vorher, von Gergiev ganz zu schweigen! Seine Nijinsky-Inszenierung halte ich für die Beste, aber das schrieb ich ja schon?
Und nun das. Noch einmal, alle, alles perfekt, zu recht wird das Orchester, wird Alan Gilbert gefeiert, aber: So, und dass gerade ich das sagen muss, opfert man keine Jungfrau.
Nun gut, die konzertanten Aufnahmen wie Aufführungen sind eh nicht tanzbar. Und darin liegt die Crux, ja, sie beginnt.
Bei Gergiev eben, und‚ Strawinsky selbst: Man muss die Musik an einen Körper heften, den Dynamik-definierenden Tänzer:Innnen, sie dessen um deren Bewegungen anpassen, das Ganze muss organisch sein, nicht umsonst nennt der feine Franzose den Orgasmus und „petit mort“ – da muss doch mehr drin sein? Nur akademisch kann man, so denke ich, auch aus An-s-tand, keine Jungfrau für den Frühling opfern. Nach heute Abend haben wir Herbst bis 2025. Außer Mäkelä erlöst uns.
Aber in Hamburg wirft man eben keine Stühle. In Hamburg steht man.
Ganz anders am 29. Mai 1913: Igor Strawinsky berichtet später von der skurrilen Situation: „Natürlich konnten die armen Tänzer ihn nicht hören infolge des Tumults im Zuschauerraum und wegen des Lärms, den ihre Füße beim Tanzen auf den Bühnenbrettern machten. Ich musste den rasenden Nijinsky am Rock festhalten, denn er war jeden Augenblick bereit, sich auf die Bühne zu stürzen, um einen Skandal zu provozieren.“ Der Komponist hat aufgrund des Tumults von dem Premierenabend nur schemenhafte Erinnerungen. „Sergej Diaghilew wollte dem Toben ein Ende bereiten und befahl dem Beleuchter, bald im Zuschauerraum Licht zu machen, bald ihn wieder zu verdunkeln. Das ist alles, was ich von der Premiere behalten habe.“
In Paris hat man Stühle Richtung Tänzer geworfen. Die Hamburger stehen.
Nun wirklich, den Frühling schon am 1. September herbeizuflehen, halt’ ich sogar im höheren Norden für, nun, sagen wir, optimistisch. Viele kamen aber nach der Pause, nach Joshua Bell, nicht zurück.
Ach, wie vermisste ich Brahms. Und wie sehr wippte ich beim Jungfrauenopfern ekstatisch mit, blutrünstig, irr an der Natur, vielleicht der im Ballett zum Himmel starrende Prophetengreis. Wie werden es nie erfahren…
Eins noch, Alan, mein Alan: Da wirft man sich selber in Smoking, Deine Jungs tragen Frack, und Du hast im Anzug geschlafen?
Zuviel Dutillieux, ich sag’s ja.
Harald Nicolas Stazol, 2. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ein begeistender Konzert-Bericht von Herrn STAZOL, auch wenn eine Ösin nicht allen Details folgen kann. Aber sie kann sich vorstellen, dabeigewesen zu sein. Vielleicht einer der Abende, die bleiben und die man später an den Fingern beider Hände abzählen kann. Mein erster davon war in den 1960-Jahren bei den Wiener Festwochen, sie werden mit dem Alter seltener…
Ulrike Messer