Foto: Rätzke (c)
NDR Elbphilharmonie Orchester
Valeriy Sokolov Violine
Dirigent Juraj Valčuha
Vito Žuraj, »Stand up« für Orchester (Uraufführung)
Béla Bartók, Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 Sz 112
Sergej Prokofjew, Sinfonie Nr. 3 f-Moll op. 44
Elbphilharmonie, 24. März 2017
Von Sebastian Koik
Das erste Stück dieses Abends in der Elbphilharmonie ist „Stand up“, eine Uraufführung des slowenischen Komponisten Vito Žuraj. Dieser war während der Komposition beeinflusst von sich häufenden Meldungen über populistische Parolen: von der Vorahnung unangenehmer Zeiten und dem Gefühl des gesellschaftlichen Werteverlusts. Aber Žuraj will nicht als politischer Komponist verstanden werden will – er hat mit „Stand up“ ein musikalisches Plädoyer für politisches Rückgrat geschrieben.
Mit „sich einsetzen für etwas“ ließe sich der Titel des Stückes sinngemäß übersetzen. Am Anfang steht eine aus zahlreichen Einzelstimmen bestehende Streichergruppe, die eine große Masse aus Individuen symbolisieren soll. Die auffälligste Rolle nimmt die Pauke ein, die in drei großen Soli „demagogische Reden hält“. Laut Komponist gibt es drei Möglichkeiten der Antwort auf solche Reden: Mit Lachen, Zorn oder mit Widerstand. Das Orchester antwortet dann auch drei Mal auf die Tiraden des Paukisten. Das hört sich vom Konzept her interessant und sympathisch an und wird vom Orchester hervorragend umgesetzt – musikalisch überzeugend finde ich die Komposition nicht.
Es macht allerdings Spaß, der Schlagwerk-Abteilung des Orchesters beim „Spielen“ zuzusehen. Sie steht auch an diesem Abend in der letzten Reihe des Orchesters, aber im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Außer der Freude beim Zusehen und Zuhören der vier Perkussionisten und der Freude darüber, dass sie mal so sehr im Mittelpunkt stehen dürfen, gibt mir das Stück aber sehr wenig.
Nach dieser Komposition aus der Gegenwart ertönt im zweiten Stück Musik von einem Klassiker des 20. Jahrhunderts: Béla Bartóks Violinkonzert Nr. 2. Innerhalb einer klassischen schnell-langsam-schnell Satzfolge zieht Bartók kühn und am Puls der Zeit alle Register seiner Kompositionskunst. Der Ungar kommt schnell zur Sache! In ganz wenigen Takten schafft er wirkungsvoll die Ausgangsstimmung einer harmonischen und heilen Welt, um dann aber blitzschnell seinen eigenen musikalischen Kosmos aufzubauen. Das ist großartige Kompositionskunst, die das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Juraj Valčuha im Großen Saal auf allerhöchstem Niveau umsetzt.
Valeriy Sokolov spielt die Violine extrem ausdrucksstark mit sehr viel Tiefe und großer Sensibilität für komplexe Klang- und Gefühlsschattierungen. Er musizert mit wunderbarem Timing und großer Musikalität. Besser geht es nicht. Sehr schnelle und virtuose Passagen meistert er mit Leichtigkeit und Souveränität. Auch das Orchester spielt großartig! Ebenfalls mit großer musikalischer Spannung, sensibel, klangschön und mit Tiefe. Der Solist und das Orchester fesseln. Der erste Satz ist ein sehr intensives und wunderbar begeisterndes Erlebnis in Perfektion!
Der zweite Satz beginnt mit himmlisch-weichen, sanften, zärtlichen Geigen. Das klingt ganz wunderbar! Doch nach und nach scheint sich der Dirigent etwas eingelullt zu haben. Die musikalische Spannung und der Zauber des ersten Satzes gehen im Verlauf des zweiten irgendwann verloren. Bei den zuvor brillanten Schlagwerkern fehlt es jetzt auch etwas an Spritzigkeit und Biss. Erst zum um Schluss ist die Musik wieder zupackender und inspirierter.
Auch im dritten Satz hat Juraj Valčuha die Musik nicht fest im Griff. Spannung und Musikalität sind suboptimal. Ein starkes Solo von Sokolov gegen Ende des Stückes wirkt stark belebend. Die Blechbläser haben einige kurze, sehr schöne Einsätze, dann ist das Stück ähnlich plötzlich vorbei wie es angefangen hat.
Sokolov spielt eine virtuose und grandiose Zugabe. Dabei erzeugt der Ukrainer einige sehr interessante und bisher ungehörte, wundervolle Klänge. Der 30-Jährige beweist sich in Hamburg als Weltklasse-Violinist und sensibler Meister der komplexesten Zwischentöne.
Nach der Pause spielt das Haus-Orchester die 3. Sinfonie von Sergej Prokofjew. Der schrieb zwischen 1919 und 1927 die Oper Der feurige Engel. Die Handlung spielt in Deutschland im Übergang vom Spätmittelalter zum Humanismus. Magie, Aberglaube und sexuelle Obsessionen sind die zentralen Themen des Stückes, in dem Faust und Mephistopheles Gastauftritte haben und die Protagonistin der Handlung exorziert wird und am Ende auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Das Werk wurde zu Lebzeiten des Komponisten nie aufgeführt, da es unter Stalin und dessen Nachfolgern als dekadent galt. Nachdem sich alle Aufführungspläne zerschlagen hatten, erschuf Prokofjew aus dem thematischen Material der Oper seine dritte Sinfonie, die auch heute noch avantgardistisch und recht unzugänglich klingt.
Es ist Musik, die mich selten mitnimmt. Aber es gibt aber auch sehr schöne Stellen! Der erste Satz zeigt nach getriebenem Beginn die Protagonistin Renata in einem kurzen Moment der Ruhe und des Friedens. Diese Oase des Friedens kommt sehr überraschend, klingt wie ein Stück Paradies und heilend wie das Rauschen eines Gebirgsbaches.
Der dritte Satz beginnt mit Bratschen, Celli und Kontrabässen, die noch einmal eine friedliche und entspannende Stimmung erzeugen, die sich allerdings schnell ändert und immer wilder wird. Die Musik ist sehr energisch, Prokofjew lässt die Geigen lange schmerzvoll quietschen. Es ist bis zum Schluss ungewöhnliche Musik – avantgardistisch, aber selten schön. Das Orchester spielt stark!
Sebastian Koik, 28. März 2017
für klassik-begeistert.de