© Dieter Nagl für die Wiener Philharmoniker
Neujahrskonzert 2025, Goldener Saal, Musikverein Wien
Wiener Philharmoniker
Musikalische Leitung: Riccardo Muti
von Kirsten Liese
Seine Landsleute in Neapel hätten eine ähnliche Mentalität wie die Wiener, erklärt Riccardo Muti einigen Gratulanten nach dem Konzert im Künstlerzimmer. Nicht zu verwechseln mit den Mailändern, die der Maestro – seiner augenzwinkernd missmutigen Grimasse nach zu urteilen – für strenger hält. Das erklärt vielleicht, warum sich der italienische Stardirigent so gut auf diese besondere Melange aus Lebensfreude und Melancholie in den Walzern, Polkas und Märschen der Strauß-Familie versteht.
Jedenfalls hat man, um das gleich vorab zu sagen, viele der teils sehr beliebten Stücke auf dem diesjährigen Programm, seien es die beschwingte Annen- und Tritsch-Tratsch-Polka, der Lagunenwalzer oder auch den Walzer „Wein, Weib und Gesang“ selten so trefflich gehört.
Jubilar Johann Strauß Sohn im Mittelpunkt
Im Zentrum dieses in mehrfacher Hinsicht historischen Konzerts standen freilich der Jubilar Johann Strauß Sohn, dessen 200. Geburtstag die Musikwelt im Oktober feiert, sowie die Mitglieder seiner Familie: Vater Johann, der gleich zu Beginn mit seinem muntermachenden „Freiheits-Marsch“ zu Ehren kam, und die beiden Brüder Josef und Eduard. Von dem ersteren sagt Muti, er habe die melancholischste Musik von ihnen allen geschrieben, von dem jüngeren Eduard kolportiert er vorsichtig die Meinung, er sei der „untalentierteste“ der Familie. Dessen schnelle Polka „Luftig und duftig“ zeugt im Konzert, von einer Verve, dass man sich diesem strengen Urteil allerdings nicht unbedingt anschließen möchte
Mit lustigen Dreingaben von lautmalerischem Gezwitscher, simuliert durch Vogelpfeifen, entfalteten zuvor Josefs „Dorfschwalben aus Österreich“ nach einem nachdenklichen Beginn zarten Liebreiz, dem kaum einer im Saal widerstehen konnte, zumal Orchester und Dirigent eine spontane, schalkhafte Freude ausstrahlten. Da war es besonders stark zu spüren, wie vertraut die Wiener mit dem Maestro sind, den sie als einen Lieblingsdirigenten verehren und mit dem sie nun schon seit 54 Jahren zusammenarbeiten, seit Herbert von Karajan Muti 1971 erstmals nach Salzburg holte.
Mittlerweile zum siebten Mal stand Muti nun am Pult bei einem Neujahrskonzert, das er erstmals 1993 dirigierte.
Dass ihm die Musik der Strauß-Familie längst in Fleisch und Blut übergangen wie die Giuseppe Verdis, zeigt sich in diesem 85. Konzert an allen Ecken und Enden. Oftmals sagen die Blicke zwischen Dirigent und einzelnen Musikern mehr als die teils sehr sparsamen Zeichen seiner Hände. Mitunter reicht ein verschmitztes Lächeln oder ein ernster Blick mit erhobener Augenbraue.
Bei jedem erneuten Musizieren eines noch so bekannten Edelsellers will Muti überraschen, und das gelingt ihm. Akzente betont er bisweilen mit energischen Bewegungen seiner Ellenbogen. In dem Marsch von Josef Hellmersberger hört er auf einmal auf zu dirigieren und setzt nur leichte Impulse.
Die Besonderheiten des Wienerischen
Was das besonders Wienerische ausmacht, lässt sich gerade bei ihm bestens studieren, besonders plastisch vielleicht beim Lagunenwalzer und der Ouvertüre zu der Operette „Der Zigeunerbaron“.
In der Summe ist es eine Vielzahl an Details: organisch wirkende, perfekte Verlangsamungen und Verzögerungen vor rauschhaften Melodien, ein perfektes Timing bei Beschleunigungen vor Überleitungen und Codas, eine sehr differenzierte Dynamik, sowie klangliche Eleganz. Ob Marsch oder Polka: Selten einmal gerät die Musik derb in ein Poltern, und das nur, wenn es das Stück einmal thematisch nahelegt wie die sogenannte „Demolirer“-Polka, mit der Johann Strauß Sohn musikalisch an den Abriss der alten Stadtmauern erinnern wollte.
Erstmals ein Walzer einer Komponistin
Zu einem historischen Ereignis wurde das 85. Neujahrskonzert freilich auch, weil erstmals eine Komponistin zu Ehren kam. Von Constanze Geiger musizierten die Wiener Philharmoniker den „Ferdinandus“-Walzer, den die 1835 geborene, auch als Pianistin und Schauspielerin erfolgreiche Frau im Alter von nur 12 Jahren schrieb. Wie es zu der Entdeckung der international kaum bekannten Künstlerin kam, deren Werke zu ihren Lebzeiten vielfach von der Strauß-Familie aufgeführt wurden, war auf der Pressekonferenz leider nicht zu erfahren. Aufschluss darüber gibt aber ein profund recherchiertes, imposantes Buch unter dem Titel „Es liegt ein eigener Zauber in diesem Wunderkinde“, das Raimund Lissy, Wiener Philharmoniker bei den zweiten Geigen, kürzlich vorgelegt hat.
Den ersten Impuls dazu gab die österreichische Moderatorin und Musikwissenschaftlerin Irene Suchy, die 2024 das „1. Neujahrskonzert der Komponistinnen“ in Wien initiierte, um Musik zu Gehör zu bringen, die bei den Wiener Philharmonikern bislang keinen Raum fand. Dass sich das Orchester nun erstmals diesem Thema geöffnet- und mit Geiger eine Komponistin auf ihr Programm gesetzt hat, ist sicherlich ein Erfolg, den die Initiatorin Suchy für sich verbuchen kann.
Die zahlreichen in dem profund recherchierten Buch zusammengetragenen, von Geigers Werk beeindruckten Stimmen korrespondieren im Übrigen mit Riccardo Mutis hoher Meinung über den 1848 uraufgeführten Ferdinandus-Walzer.
Auf der Pressekonferenz hatte der Maestro klargestellt, dass er dieses Stück nicht dirigiert hätte, wenn er sich nicht der ausgezeichneten Qualität versichert hätte.
Im Konzert ließ sich diese Meisterschaft in einer Musik vernehmen, die in der Tat mit einem selbstbewussten „Vivace con fuoco“ beginnt, sich dann aber in sehr anmutige, grazile Gefilde begibt.
Zum Ende hin folgte dann eine Auswahl der beliebtesten Strauß-Stücke, die freilich beim Publikum besonders gut ankommen: Annen Polka, Tritsch-Tratsch Polka, „Wein, Weib und Gesang“ sowie als traditionelle Zugaben der Donauwalzer und der Radetzky-Marsch, bei dem sich Muti als ein zu Späßchen aufgelegter, begnadeter Komiker empfahl, der dem Publikum bedeutungsvoll –scherzhaft anzeigte, wann es mitklatschen durfte, wann leise, wann laut.
Mutis letztes Neujahrskonzert
Wenn das 85. Wiener Neujahrskonzert tatsächlich Riccardo Mutis letztes gewesen sein sollte, wie er auf der Pressekonferenz andeutete, könnten auf das Orchester schwierige Zeiten zukommen. Der vom Wiener Publikum vergötterte Christian Thielemann ist dann vielleicht der einzige prominente verbliebene Altmeister, der für das beliebteste, in 93 Länder übertragene, Event noch zur Verfügung steht. Dass Daniel Barenboim und Zubin Mehta noch einmal ein Neujahrskonzert dirigieren werden, ist aufgrund deren angeschlagener Gesundheit wohl eher unwahrscheinlich.
Es werden demnach wohl Jüngere, weniger erfahrene, etablierte Dirigenten und Dirigentinnen ranmüssen.
Der Kanadier Yannick Nézet-Séguin ist einer von ihnen, er leitet das Neujahrskonzert 2026.
Langfristig die geeigneten Nachfolger zu finden wird indes nicht leicht, zumal davon auszugehen ist, dass die Wiener vermutlich aus politischen Gründen um Teodor Currentzis – und damit einen der besten der jüngeren Generation – einen Bogen machen werden. Aber nicht zum ersten Mal steht das Wiener Neujahrskonzert vor einer schwierigen Zäsur.
Der plötzliche Tod von Clemens Krauss 1954 stellte das Orchester allerdings schon einmal vor eine große Herausforderung, die dann dank Willy Boskovsky gelöst wurde, der eine glanzvolle, 25 Jahre währende Ära begründete.
Vielleicht findet sich ja auch in den kommenden Jahren der- oder diejenige, die das Konzert so erfolgreich weiterführt. Dafür halten wir die Daumen!
In diesem Sinne ein frohes, gutes Neues Jahr!
Kirsten Liese, 1. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm:
Johann Strauß (Vater): „Freiheits-Marsch op.226
Josef Strauß: „Dorfschwalben aus Österreich“, op. 164
Johann Strauß (Sohn): „Demolirer“-Polka, op. 269
Johann Strauß (Sohn): „Lagunen-Walzer“, op.411
Eduard Strauß: „Luftig und duftig“, Polka schnell, op. 206
Johann Strauß (Sohn): Ouvertüre zu der Operette „Der Zigeunerbaron“
Johann Strauß (Sohn): „Accelerationen“, op. 234
Joseph Hellmesberger d.J.: „Fidele Brüder“, Marsch aus der Operette „Das Veilchenmädel“
Constanze Geiger: „Ferdinandus“-Walzer, op.10
Johann Strauß (Sohn): „Entweder-oder“, Polka schnell, op. 403
Joseph Strauß: „Transactionen“, Walzer op. 184
Johann Strauß (Sohn): Annen Polka, op. 117
Johann Strauß (Sohn): Tritsch Tratsch, Polka schnell, op. 214
Johann Strauß (Sohn): „Wein, Weib und Gesang“, op. 333
Zugaben:
Johann Strauß (Sohn): Die Bajadere
Johann Strauß (Sohn): An der schönen blauen Donau
Johann Strauß (Vater): Radetzky-Marsch
Das Arena di Verona Opera Festival ist ein No-Go klassik-begeistert.de, 2. Januar 2025