Solovorhang für Aleix Martínez nach seiner physisch und psychisch erschöpfenden tänzerischen Leistung als Vaslaw Nijinsky (Foto: RW)
Zu bewundern war, mit welcher lyrischen Linie Ida Praetorius den Part von Romola ausfüllte, wie feinsinnig und erschütternd Evan L’Hirondelle Nijinskys Bruder Stanislaw interpretierte und wie ausdruckstark Ida Stempelmann die abgezirkelten choreographischen Linien von Bronislava Nijinska nachzeichnete.
Nijinsky, Ballett von John Neumeier
Choreographie, Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier
Musik: Chopin, Rimskij-Korsakow, Schostakowitsch
Philharmonisches Staatsorchester, Leitung: Maria Seletskaja
Klavier: Ondrej Rudcenko, Solo-Violine: Daniel Cho
155. Vorstellung seit der Premiere am 2. Juli 2000
Hamburgische Staatsoper, 20. Juni 2025
von Dr. Ralf Wegner
Es hat etwas von Magie. Auch die zweite Aufführung von Neumeiers Nijinsky-Ballett innerhalb weniger Tage drang tief in Herz und Seele. Sämtliche Partien waren neu besetzt, die emotionale Überwältigung ist vergleichbar. Bei Neumeiers Werk, er zeichnet für Choreographie, Bühnenbild und Kostüme verantwortlich, verschmelzen Handlung, Bühne, Musik und Tanz symbiotisch zu einem Gesamtkunstwerk, dessen Wirkung man sich kaum entziehen kann.
Daran hatten nicht nur die fabelhaften Tänzerinnen und Tänzer Anteil, sondern erneut auch das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Maria Seletskaja sowie Daniel Cho an der Solo-Violine und Ondrej Rudcenko am Klavier.
Tänzerisch unterschieden sich die beiden erlebten Besetzungen im Detail, aber eigentlich nur in Nuancen. Zu bewundern war, mit welcher lyrischen Linie Ida Praetorius den Part von Romola ausfüllte, wie feinsinnig und erschütternd Evan L’Hirondelle Nijinskys Bruder Stanislaw interpretierte und wie ausdruckstark Ida Stempelmann die abgezirkelten choreographischen Linien von Bronislava Nijinska nachzeichnete. Es ist aber Aleix Martínez, der völlig in Vaslaw Nijinsky aufging und vergessen ließ, dass er eine Rolle tanzte und nicht sich selbst. Wie Martinez sich in die Rolle hineinversetzte, sich Vaslaws Körper bemächtigte, ist und bleibt phänomenal.

Auch die anderen Partien waren neu besetzt, Matias Oberlin zeigte charismatisch den ambivalenten Charakter von Serge Diaghilew, Alessandro Frola trat als sprungmächtiger Geist der Rose auf und Emiliano Torres gab dem Goldenen Sklaven sensuell Profil.
Man hat gar nicht die Zeit, sich auf die vielen Details des Bühnengeschehens zu konzentrieren.
Nichts ist nur vordergründig, und Vordergründiges wird hintergründig und umgekehrt, je nach der eigenen Sichtweise.
Wer konzentriert sich schon ständig auf die beiden kaiserlichen Ballerinen (Futaba Ishizaki und Ana Torrequebrada) oder auf Xue Lin, die in Rollen wie der Sylphide aus Les Sylphides oder als Ballerina aus Petruschka im Hintergrund agiert. Florian Pohl fällt durch seine Größe und sein imponierendes Hochwerfen der Partnerin auf. Haley Page und Pepijn Gelderman waren als Vaslaws Eltern und Javier Monreal als der Diaghilew umgarnenden neue Tänzer besetzt und Louis Haslach zeigte als trauriger Petruschka ein großartiges Solo.

Grundzüge der Handlung
Neumeiers Nijinsky-Ballett ist ohne Vorkenntnisse nicht ganz einfach zu verstehen. Für manchen mag die Vielzahl der unterschiedlichen Figuren auch verwirrend sein. Es ist eben nicht Dornröschen oder Schwanensee mit einer nachvollziehbaren Märchenhandlung und einer überschaubaren Personenzahl.
Die Kenntnis folgender Grundzüge der Handlung tragen zum Verständnis bei: Vaslaw Nijinsky war ein hochberühmter, von dem Ballett-Impresario Serge Diaghilew protegierter Ballettstar, der früh geistig umnachtete. Das Stück beginnt mit einer privaten Vorführung vor Anhängern in einem Schweizer Hotel, bei der auch Diaghilev erscheint und seinen Schützling und ehemaligen Liebhaber in die bereits vergangene Bilderwelt des Tänzer entführt.
Während einer Seereise lernt Vaslaw Romola kennen, die sich weniger in ihn, als in seine Rollen verliebt. Beide heiraten. Vaslaw ist zwischen Diaghilew und Romola hin- und hergerissen. Zusätzlich bedrängt ihn seelisch sein nervenkranker Bruder Stanislaw. Die apokalytischen Wirren des Krieges führen bei Vaslaw zum physischen Zusammenbruch, aus dem ihn auch die mittlerweile treu für ihn sorgende Romola nicht mehr herausholen kann. Die Welt bricht um Vaslaw herum sinnbildlich auseinander.
Die formale Gliederung des Balletts Nijinsky
Formal gliedert sich Neumeiers Ballett in zwei Akte mit 35 Szenen. Viele davon gehen unbemerkt ineinander über, so dass dem Zuschauer nur einzelne, länger andauernde in Erinnerung bleiben, so zu Beginn die in die Hotelhalle strömenden, sich selbst in Szene setzenden Gäste (Nr. 1). Die offenbar erwartete Belustigung fällt aus, Nijinsky zeigt sich nicht so, wie man ihn von früheren Bühnenauftritten her kannte.
Vieles wechselt dann sehr schnell, der sensuelle Auftritt und der halbe Kopfstand des Goldenen Sklaven (Nr. 8) bleibt in Erinnerung und schließlich Romolas Annäherung an Vaslaw und seine Rollen, interagiert von Diaghilew (Nrn. 16-18).
Nach der Pause wird es zur Sinfonie Nr. 11 g-moll zunehmend dramatischer: Petruschka hat ein das Kriegsgeschehen anklagendes Solo (Nr. 27). anschließend verfällt Stanislaw, Nijinskys Bruder, in einem ergreifenden Solo dem Irrsinn (Nr. 28), gefolgt von den stampfenden Rhythmen des Soldatenensembles (Nr. 29), einem der tänzerisch wohl aufwühlendsten Szenen der Ballett-Literatur.
Danach wird es ruhiger, aber mit dem Schlitten-Pas de deux, in dem Romola um die Seele ihres ihr entgleitenden Mannes kämpft (Nr. 31), nicht weniger emotional. Die Welt wird verrückt, das gesamte Ensemble unterwirft sich dem Kriegsirrsinn (Nr. 32) und nach einer Erinnerung an seine Familie (Nr. 34) hat Vaslaw seinen letzten, fast metaphorischen Auftritt, der ihn in Kreuzeshaltung zurücklässt (Nr. 35).
Foto 4
Nijinsky, Nr. 29: World War I / Le Sacre du Printemps, Videostill YouTube [https://www.youtube.com/watch?v=Hidg9j_WGPA].
DVD/Blue-Ray und weitere Aufführungen
Von diesem Ballett gibt es eine beeindruckende DVD/Blue-Ray Verfilmung mit Alexandre Riabko als Vaslav, Carolina Agüero als Romola, Ivan Urban als Diaghilev und Aleix Martínez als Stanislaw. Es handelt sich um einen filmisch überarbeiteten Mitschnitt einer Aufführung in der Hamburgischen Staatsoper aus dem Jahre 2017, der vieles aus dem Zuschauerraum so nicht Sichtbares (Gesichter in Großaufnahme) zeigt, aber auch den eigenen Blick auf das Bühnengeschehen einengt.
Deshalb ersetzt die DVD keinesfalls den Besuch der Aufführung. In Hamburg wird Nijinsky noch einmal bei den Balletttagen gezeigt sowie in einer weiteren kurzen Aufführungsserie ab dem 16. Mai 2026. Weitere Aufführungen gibt es in Dresden bei dem Ballett der Semperoper, und zwar ab dem 18. Januar 2026.
Dr. Ralf Wegner, 22. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Nijinsky, Ballett von John Neumeier Hamburgische Staatsoper, 11. Juni 2025