Tippetts „A Child of Our Time“ entfacht in mir die Kraft des Friedenswillens

A Child of Our Time, Oratorium von Michael Tippett  (1944)  Herz-Jesu-Kirche München, 4. Juli 2025

A Child of Our Time © BR / Markus Konvalin

Michael Tippetts selten außerhalb aufgeführtes Oratorium A Child of Our Time brennt thematisch unter den Nägeln und durchdringt mich musikalisch insbesondere durch aufwühlende Chorpassagen, deren Höhepunkte die integrierten Spirituals sind, die mir den Atem rauben, mir Schweiß auf die Stirn setzen und mich an den Rand der Tränen bringen.

A Child of Our Time  (1944)
Ein Friedensoratorium von Michael Tippett (1905-1998) (Musik und Text)

Elizabeth Llewellyn   Sopran
Natalie Lewis   Mezzosopran
Barry Banks   Tenor
Andrew Hamilton   Bariton

Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung Florian Helgath)
Münchner Rundfunkorchester

Patrick Hahn   Leitung

Herz-Jesu-Kirche München, 4. Juli 2025

von Frank Heublein

An diesem Abend wird in der Herz-Jesu-Kirche in München-Neuhausen mit „A Child of Our Time“ ein Oratorium des britischen Komponisten Michael Tippett aufgeführt. Seine Werke stehen außerhalb Großbritanniens eher selten auf dem Spielplan, obwohl sein Werk reichhaltig ist.
Es umfasst Oper und orchestrale Werke und weist unterschiedliche Einflüsse auf von Renaissance, Klassik, Romantik, Impressionismus und den diversen zum Teil atonalen Musikrichtungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Tippett verschmilzt diese Einflüsse in eine Tonsprache, die sich so divers ausdrückt, dass er als das Gegenteil seines kompositorischen Zeitgenossen Benjamin Britten erscheint, der „mit seinem Stil geboren wurde“, so höre ich es in der Einführung.

A Child of Our Time, Mezzosopran Natalie Lewis © BR / Markus Konvalin

Michael Tippett war überzeugter Pazifist, er wanderte wegen Kriegsdienstverweigerung während des zweiten Weltkriegs ins Gefängnis. Die Ereignisse um Herschel Grynszpan sind Motivationsgrundlage des Oratoriums. „Der 17-jährige Jude Herschel Grynszpan, dessen Familie vom Nazi-Regime zwangsdeportiert worden war, erschoss im November 1938 in einem Racheakt den in der Pariser Botschaft arbeitenden Nationalsozialisten Ernst vom Rath. Dies diente der deutschen Regierung schließlich als Vorwand für die brutale Reichspogromnacht.“ informiert der Programmflyer. Tippett konnte beim Komponieren nicht wissen, welch ungeheures Ausmaß die Judenverfolgung hatte. Insofern ist das Werk visionär und ganz entgegen des Titels A Child of Our Time ein Werk von auch heute brennender Aktualität.

A Child of Our Time, Bariton Andrew Hamilton © BR / Markus Konvalin

„The darkness declares the glory of light“ (Die Dunkelheit kündet von der Herrlichkeit des Lichts) hat Tippett dem Werk als Motto vorangestellt. Für ihn ist es ein Versöhnungswerk. Tippett textete auf Anraten seines Freundes T.S. Eliot selbst. Eindrücklich etwa Szene 3: Is evil then good? / Is reason untrue? / Reason is true to itself; / But pity breaks open the heart. / We are lost. / We are as seed before the wind. / We are carried to a great slaughter. (Ist Böse denn gut? Ist Vernunft unwahr? Vernunft ist in sich selbst wahr. Aber Mitleid bricht das Herz auf. Wir sind verloren. Wir sind wie die Saat im Wind. Wir werden in ein schreckliches Blutbad getrieben.)

Strukturell orientiert sich Tippett an Händels Messias. Das Oratorium hat drei Teil. Der erste führt zum Thema hin, der zweite deutlich längste führt die Handlung aus, der dritte fasst zusammen. Entgegen den Vorbildern weist er Chor, Solistinnen und Solisten wechselnde Rollen zu und keine Rolle wird herausgehoben, auch nicht die Titelrolle.

A Child of Our Time, Tenor Barry Banks © BR / Markus Konvalin

Das Oratorium beginnt mit Fanfarenklang, das zu grummelnden beunruhigenden pianissimo verhallt. Wie bedrohlich empfinde ich den Chor zu Beginn des zweiten Teils! Leise beginnend peitscht der Chor auf wie eine stürmische Welle. Starke und schnell zoomende Lautstärkenunterschiede pianissimo zu fortissimo und wieder zurück. Das Oratorium taucht mich ein in einen rauen Gefühlssee, wirbelt mich – weitgehend tonal – darin umher.

Die atemberaubenden Höhepunkte sind für mich die fünf Spirituals, die Tippett ins Oratorium hinein webt. Steal away to Jesus, Nobody Knows de Trouble I’ve Seen, Go down Moses, I’m Going to Lay Down My Heavy Load und Deep River. Den Tränen nähe, Schweiß perlt an Kopf und Schläfen an diesem warmen Sommerabend. Die Spirituals passen inhaltlich hervorragend in die erzählte Handlung. Der Chor und unterschiedliche Solistenstimmen sorgen dafür, dass ich Mut in Steal away to Jesus, Verzweiflung in Nobody knows und Go down Moses und zuletzt aufkeimende Hoffnung in I’m Going to Lay Down My Heavy Load und Deep River in jeder einzelnen meiner Körperzellen so stark spüre, dass nichts anders Platz in mir findet.

A Child of Our Time, Sopran Elizabeth Llewellyn © BR / Markus Konvalin

Sopran Elizabeth Llewellyn sind voller beherzter Energie und Dynamik. Mezzosopran Natalie Lewis erlebe ich als etwas zurückgenommen. Ihr zartes verletzliches Timbre kommt gerade dadurch stark zum Vorschein. Tenor Barry Banks arbeitet sich seine Partie hinein und zeigt stimmlich die dramatische Verzweiflung, die in seiner gesungenen Handlung steckt. Bariton Andrew Hamilton packt mich in Go down Moses. Wunderbar harmoniert er in dieser Nummer mit dem Chor und setzt sich kraftvoll entschlossen an die Wellenspitze der choralen Wucht.

Der Chor des Bayerischen Rundfunks überzeugt. Fein im piano, wuchtig im forte. Farbenreiche Stimmlagen differenzieren die Chornummern, die meist zusammenfinden zu einem stürmisch tosenden finalen Miteinander, das plötzlich abwogt. Im Münchner Rundfunkorchester durchwellen die Instrumentengruppen, wie ein Staffelstab übergeben sich die Instrumente die Klanglinie. Besonders stechen mir gegen Ende des zweiten Teils im Tenor Solo Nr. 22 The Boy Sings in His Prison ziselierende Geigen, zerbrechliche Flöten und leidende Oboen übers Ohr ins Herz. Das setzt sich fort im Sopransolo Nr. 23 The Mother. Ein einschneidender Schmerz in Text und Klang, der sich im Spirtual I’m Going to Lay Down My Heavy Load in Zuversicht wendet.

A Child of Our Time, Dirigent Patrick Hahn © BR / Markus Konvalin

Dirigent Patrick Hahn betont die Lautstärkenunterschiede, die Dynamik und setzt so den dramatischen Akzent. Er trennt die Nummern klar, was in mir den Gesamtfluss des Oratoriums an wenigen Stellen in mir unterbricht und die dramatische Dichte reduziert. Mein Ohr stellt sich neu auf, als würde ich meine Sitzposition korrigieren.

Nach etwa vierzig Jahren höre ich dieses Oratorium ein zweites Mal live. Es fasst mich hart an im Inneren, das Schicksal des Jungen in A Child of Our Time. Als Friedensoratorium erdacht, entlässt mich Michael Tippett am Ende voller Hoffnung mit dem Spiritual Deep River: „The land where all is peace“ (das Land, wo überall Frieden herrscht) lautet ein der letzten Zeilen. An diesem Abend ist es ein Traum für diese Welt in 2025. So war es bei der Uraufführung des Stücks 1944. Ich hoffe, es träumen diesen Traum so viele, dass er Wirklichkeit wird. Das Hören des Oratoriums hilft Ihnen bei diesem Träumen. Sie können also weltmitretten, ein Konzertmitschnitt wird im Radio gesendet.

Frank Heublein, 5. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Auf der Seite des Rundfunkorchesters können die Texte des Oratoriums eingesehen werden. Es wird möglicherweise auch ein Link zur Verfügung gestellt, der auf den Konzertmitschnitt der zweiten Aufführung am 06. Juli 2025 in Nürnberg verweist. Im Radio wird das Konzert am Mittwoch, den 13. August 2025 ab 20:03 Uhr übertragen und steht danach im Stream auf Abruf für vier Wochen zur Verfügung.

Sinfonieorchester Wuppertal, Patrick Hahn, Dirigent, Angela Hewitt, Piano Kölner Philharmonie, 18. Januar 2023

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 8 / Bremer Jubiläumsaufführung Bremer Konzerthaus  Die Glocke, 23. Juni 2025

Gioachino Rossini, Il turco in Italia Wiener Staatsoper, 3. Juli 2022

György Ligeti, Le Grand Macabre (1978 / rev. F. 1996) Nationaltheater, München, 28. Juni 2024

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