Musik kann nur live stattfinden. Sie ist nicht übertragbar. Dessen war sich der große Sergiu Celibidache sicher. Celibidache, der Aufnahmen ablehnte, ging sogar so weit zu behaupten: „Es ist eine Dummheit, dass die Welt noch nicht erfahren hat, dass das Mikrofon nicht alles einfangen kann, was das Wesen der Musik ausmacht!“ Seine Schlussfolgerung: Wenn man nicht alles aufnehmen kann, kann man auch nicht alles wiedergeben. Also ist es sinnlos.
von Jürgen Pathy
Obwohl ich den Kern seiner Aussage unterstreiche, ganz so einfach ist das natürlich nicht. Selbstverständlich ist das Live-Erlebnis – im wahrsten Sinne des Wortes – niemals mit einer Aufnahme ident. Daran besteht gar kein Zweifel! Dennoch haben Aufnahmen ihre Berechtigung. Das hat mehrere Gründe.
Erstens: Nicht jeder hat die Möglichkeit, ein Konzerthaus, ein Opernhaus zu besuchen – weswegen auch immer: ob der Distanz, der finanziellen Mittel oder anderer Einschränkungen wegen. Diesen Personen muss die Möglichkeit geboten werden, zumindest per Aufnahme dem Ereignis beizuwohnen. Zweitens: Jeder sollte zumindest die Möglichkeit haben, wann immer er möchte ein Werk zu hören. Und drittens: Aufnahmen sind ein zeitgeschichtliches Dokument. Man stelle sich nur vor, es gäbe keine Aufnahmen von Pavarotti, Callas & Co. Ein schrecklicher Gedanke.
Nichts kann die Live-Vorstellung ersetzen
Womit Celibidache jedoch völlig recht hatte: „Es gibt keinen Ersatz!“. Eine Aufnahme oder ein Live-Stream sind ein Zusatzangebot, aber niemals ein Ersatz. Wer denkt, er könne eine Live-Aufführung meiden, nur weil ihm Aufnahmen und Übertragungen zur Verfügung stehen, der irrt gewaltig. Eine Aufnahme – egal wie hochwertig sie sein mag – ist steriles Material. Eines Großteils seines Pulses beraubt. Sie kann zwar wiedergeben, ob ein Ton getroffen wurde. Ebenso die Melodie, bisweilen sogar den Spannungsbogen. Die Aufnahme ist auch in der Lage, einen gewissen Teil der emotionalen Tiefe zu erreichen.
Was eine Aufnahme allerdings nicht kann, ist die Aura des Abends und der Künstler einzufangen. Dort erreicht sie ihre Grenzen. Das Live-Erlebnis bedient mehr als nur ein Sinnesorgan. Wer denkt, es ginge nur ums Hören, der hat gerade einmal die Spitze des Eisbergs entdeckt. Musik ist so viel mehr.
Dass ein Orchester, Sänger und Dirigent im Idealfall auf höchstem technischen Niveau musizieren, ist Voraussetzung. Darüber muss man gar nicht diskutieren. Dahinter herrschen jedoch noch andere Kräfte – unvorhersehbare, teils unerklärliche. Jeder bringt seine eigene Geschichte, seine Tagesverfassung, sein Wissen und seine Vorurteile mit in eine Vorstellung. Erinnerungen, Gerüche, Emotionen, die er mit einem Ort verbindet. Und zwar alle Anwesenden. Sowohl Zuschauer als auch Künstler. Zu denken, das wären zwei getrennte Welten, ist Unsinn. Beide leben vom Austausch. Wenn das alles harmoniert, dann ergeben sich große Abende.
Selbstverständlich ist nicht jedes Live-Ereignis ein großes. Nicht einmal, wenn die Wiener Philharmoniker im Orchestergraben sitzen und die größten Namen auf der Bühne stehen. Wenn allerdings alles passt, alle Kräfte sich vereinen, dann sind das Momente, denen nichts nahe kommt – nicht einmal der Liebesakt. Nach Meinung Celibidaches hätte es für diesen zwar ebenfalls viele Ersatzarten gegeben. Trost und Motivation fand der „Klangmagier“, wie man ihn nannte, darin allerdings nicht: „Es wird Menschen geben, die nie zur Wahrheit der Liebe finden!“
Die Atmosphäre eines Opernhauses
Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist: Neben der Aura des Orchesters, des Dirigenten und der Sänger, ist das die Atmosphäre eines Hauses. Jedes Opernhaus, jeder Konzertsaal hat seine eigene Geschichte. Genauso wie eine Stradivarius besteht ein Opernhaus nicht nur aus toter Materie – unabhängig davon, dass Holz sowieso „lebt“. Es ist nicht nur der Klang, der eine 300 Jahre alte Stradivari-Geige so wertvoll erscheinen lässt. In einem Versuch wurde getestet, ob Profis sich für eine alte Geige oder eine neue entscheiden würden. Das Ergebnis war ernüchternd. Viele der professionellen Musiker würden eine moderne Geige einer Stradivarius vorziehen.
Was macht also dieses edle Instrument noch so besonders? Hinter all dem Holz, das wegen einer kleinen Eiszeit einzigartig sein soll, steckt noch was anderes: Es ist der Mythos, die Geschichte. All die großen Musiker, die auf einer Stradivari-Geige gespielt haben und einen Teil ihrer Seele, ihrer Aura hinterlassen haben. Genauso ist es in einem Opernhaus – vor allem in einem wie der Wiener Staatsoper.
Wer schon einmal auf der Galerie der Wiener Staatsoper gestanden hat, weiß, wovon ich spreche. Genau in der Mitte, direkt vor dem Stiegenabgang, freie Sicht nach unten. In einer direkten Verbindung mit Orchester, Dirigenten und Sängern. Rundherum das Publikum – an einem außergewöhnlichen Abend ein großer Organismus, der gemeinsam atmet, gemeinsam leidet, liebt und stirbt. Im Haus anwesend all die Großen, deren Hülle zwar nicht mehr existiert, deren Aura jedoch stets präsent wirkt: Mahler, Karajan, Kleiber & Co. Wer das einmal erfahren hat, der weiß, wie es ist, wenn man sich fühlt wie ein König. Dafür gibt es keinen Ersatz!
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 30. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
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