Pathys Stehplatz (44): Teodor Currentzis – wer ihn verjagt, schadet der Klassik

Pathys Stehplatz (44): Teodor Currentzis – wer ihn verjagt, schadet der Klassik  klassik-begeistert.de, 1. Januar 2024

Teodor Currentzis © Liliya Olkhovaya

Was treibt Teodor Currentzis eigentlich so? Lange galt der exzentrische Pultstar als DIE heißeste Aktie der Klassikwelt. Seit Ausbruch des Ukrainekriegs bröckelt seine Fassade ein wenig. Der Forderung, ein klares Statement gegen Russland zu setzen, ist der griechisch-russische Stardirigent nicht gefolgt. Die Folgen sind bekannt und teils gravierend.

von Jürgen Pathy

Während Teodor Currentzis in einigen Hallen noch konzertiert – in der Elbphilharmonie erst vor kurzem –, ist er in Wien, der Musikhauptstadt, vollkommen von der Bildfläche verschwunden. „Das wird schon noch eine Weile dauern“, trösten Verantwortliche im Backstagebereich des Wiener Konzerthauses neugierige Gäste, die sich nach Auftritten des charismatischen Künstlers sehnen. Dabei war das Wiener Konzerthaus so etwas wie ein Ausgangspunkt der steilen Karriere, die Currentzis in andere Klassiksphären katapultiert hat.

Gegründet und in penibler Probenarbeit zu dem getrimmt, was es heute ist, hat Currentzis sein eigens gegründetes Orchester musicAeterna zwar in Perm. Tief im russischen Hinterland, von wo aus er einen Haufen ambitionierter Musikstudenten zu einem Weltklasse-Orchester geformt hat, das 2017 die Salzburger Festspiele eröffnen durfte. Zu richtigen Höhenflügen angesetzt hat es aber in den großen Musikmetropolen und Zentren der klassischen Musik.

In Wien musste man sich dem Druck beugen. Zu groß waren die Anschuldigungen, die Verbindungen, die man zu Currentzis und musicAeterna nicht nur rein künstlerischer Natur aufgebaut hat. Matthias Naske, Intendant des Wiener Konzerthauses, war zeichnungsberechtigt bei der musicAeterna Stiftung mit Sitz in Lichtenstein. Der Reibungspunkt, an dem sich bei dieser Verbindung einige stoßen, ist bekannt: musicAeterna selbst hat seinen Sitz in St. Petersburg, Russland. Als Hauptsponsor unterstützt wird das Orchester durch die russische VTB-Bank, ein von der EU sanktioniertes Unternehmen.

Starke Rückendeckung für Currentzis aus Salzburg

In Salzburg sieht die Welt noch anders aus. Dort hat man dem Druck bislang nicht nur standgehalten, im kommenden Sommer wagt man sogar einen Schritt nach vorne. Hatte Currentzis in der letzten Festspielsaison noch eher aus der zweiten Reihe agiert, steht er im Sommer 2024 mit Romeo Castelluccis Neueinstudierung von Mozarts „Don Giovanni“ wieder im Rampenlicht. Trotz vehementer Kritik, die Intendant Markus Hinterhäuser nicht nur in der Causa Currentzis entgegenweht.

Nach anfänglicher Harmonie spaltete die Kompetenzenverteilung anscheinend die Führung. Neo-Festspielchefin Kristina Hammer musste einige Zuständigkeitsbereiche abgeben, die in Richtung Salzburger Intendanz gewandert sind. Seit Anfang 2022 hat sie das Amt von Langzeitpräsidentin Helga Rabl-Stadler übernommen. Der Wirbel um Currentzis war sowieso nie wirklich ad acta gelegt worden.

Dazu gesellt sich nun eine Klage, weil man während der Corona-Pandemie 2020 angeblich die Zahlungspflichten verabsäumt habe. Die Verhandlungen vor dem Arbeits- und Sozialgericht (ASG) sind auf den 8. April 2024 vertagt worden. Nicht zu vergessen, die für viele überraschend abgesetzte „Jedermann“-Inszenierung von Michael Sturminger – inklusive kompletter Neubesetzung des berühmtesten Theaterstücks im deutschsprachigen Raum. Genügend Zündstoff also, um den medialen Shitstorm im kommenden Sommer wieder so richtig lostreten zu können.

Dass Hinterhäuser dennoch unbeirrt seinen Weg geht, ist ihm hoch anzurechnen. Aus politischer Sicht könnte man der riskanten aber mutigen Entscheidung, Currentzis die große Bühne zu bieten, natürlich Contra liefern. Currentzis konzertiert noch immer in Russland. Dirigiert mit musicAeterna gelegentlich auf Veranstaltungen, die man direkt oder indirekt mit der russischen Führung in Verbindung bringen könnte. Aus rein künstlerischer und persönlicher Perspektive sollte man dieser Entscheidung jedoch volle Rückendeckung bieten.

Der Rang von Currentzis

Currentzis ist der Rockstar unter den Dirigenten. Er ist vom Typ her das, was es heutzutage benötigt, um außerhalb des gewohnten Klassikteichs nach Publikum zu fischen. Sein gewinnendes Lächeln strahlt von U-Bahnzeitungen, seine künstlerische Ausnahmestellung ist nur in einigen Kreisen umstritten, seine Kleidung erregt Aufsehen. Das benötigt es, um dem von vielen thematisierten Aussterben des Klassikpublikums entgegenzuwirken.

Lasst ihm seine roten Schuhbänder, seine Röhrenjeans und seine exzentrische Frisur, die eher an einen Indierock-Frontman erinnert als an einen Dirigenten. Damit zieht ein frischer Wind in die verstaubten Hallen, die medial sowieso nur noch präsent sind auf dem Rücken einer aussterbenden Generation von Dirigenten.

Currentzis ist aber mehr. Currentzis ist der moderne Bernstein. Was der 1990 verstorbene Bernstein mit seinen „Young People’s Concerts“ erreicht hat, versucht Currentzis mit seinen „Currentzis LABs“ in Stuttgart. Natürlich spricht er damit eher Erwachsene an, die tiefe Einblicke in seine Arbeit erhalten wollen. Aber Currentzis geht neue Wege. Er wagt künstlerisch neues Terrain zu betreten, liefert andere Perspektiven, und – er ist ein Zugpferd.

Aufgrund seiner charismatischen Persönlichkeit erreicht er eine viel größere Zielgruppe als konservative Kollegen, deren Auftritte nicht derart mystisch inszeniert werden. Neben wenigen Ausnahmen, die vor allem von ihrer künstlerischen Nähe zu den Wiener Philharmonikern und deren Neujahrskonzert profitieren – Thielemann, Muti & Co –, ist kaum ein Dirigent derart vermarktbar wie Currentzis.

Das füllt einerseits natürlich die Kassen. Dass ein Festival, das sich nur zu rund einem Drittel aus Subventionen finanziert, die Profitabilität nicht aus den Augen verlieren darf, sollte keine Überraschung sein. Auf der anderen Seite erfüllt Markus Hinterhäuser mit seiner Hartnäckigkeit in puncto Currentzis aber eine viel wichtigere Aufgabe: Den Auftrag die Kunst und Kultur weit über die sowieso schon schrumpfende Klassikblase hinaus im Gespräch zu halten. Um charismatische Persönlichkeiten wie Currentzis also nicht komplett von der medialen Bildfläche zu löschen, ist seine Präsenz beim bedeutendsten und größten Klassikfestival dieser Welt von immenser Bedeutung. Markus Hinterhäuser deswegen als Retter der Klassik zu bezeichnen, wäre vielleicht mit etwas zu viel Pathos verbunden. Zu unterschätzen ist seine Vermittlerrolle allerdings auf keinen Fall.

Wie wir unsere Musikkultur retten

Das sollten sich alle seine Kritiker hinter die Ohren schreiben. Dass die beim Versuch, Currentzis zu schaden, sich nur selbst ins Knie schießen, sollte einigen selbsternannten Scharfrichtern nämlich durchaus in den Sinn kommen. Überhaupt, wenn der Hauptkläger, der seit Jahren einen vehementen Feldzug gegen Currentzis führt, ein Buch vermarktet, dessen Titel sich um eines sorgt. „Die Zweiklassik-Gesellschaft: Wie wir unsere Musikkultur retten“.

Die Contras sind natürlich nicht von der Hand zu weisen. Currentzis tritt bei kremlnahen Veranstaltungen auf, sein Orchester musicAeterna hängt an der russischen Nabelschnur. Zieht man allerdings in Erwägung, dass Currentzis vielleicht aus reiner Loyalität die Seile nach Russland nicht kappt, wirft das ein komplett anderes Licht auf seine Person. Seit über 20 Jahren hat man ihm dort den Nährboden geschaffen, um musicAeterna zu dem zu formen, was es heute ist. Ein Weltklasseorchester, das den Vergleich mit renommierten Symphonieorchestern nicht scheuen muss. Ein Bruch mit Russland wäre das Ende der über 100 Musiker des Orchesters, zu denen Currentzis so etwas wie eine väterliche Beziehung pflegt.

Mit musicAeterna tritt Currentzis mittlerweile sowieso nur mehr in Russland auf. Im restlichen Europa konzertiert er mit Utopia, einem neu gegründeten Orchester mit Musikern aus dutzenden Nationen inklusive der Ukraine. In Anbetracht dessen, sollte das Pendel der Pros und Contras zu seinen Gunsten ausschlagen – auch wenn einige versuchen werden, die schrecklichen Kriegsbilder, die im Augenblick die Medien beherrschen, in zynischer Weise wieder gegen Currentzis ins Rennen zu werfen. Für seine Loyalität zahlt er sowieso schon einen hohen Preis: Im September 2025 folgt ihm François-Xavier Roth auf dem Posten des Chefdirigenten des SWR Symphonieorchesters. Aus Wien hat man ihn einstweilen verbannt, und auch andernorts steht die Personalie Currentzis am gnadenlosen Prüfstand.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 31. Dezember 2023, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis Dirigent, MAHLER unFINISHED Philharmonie Berlin, 18. Dezember 2023

Klein beleuchtet kurz 6: Teodor Currentzis in der Elphi Elbphilharmonie, 12. Dezember 2023

 

Utopia, Teodor Currentzis, Barnabás Kelemen, Violine Berliner Philharmonie, 14. November 2023

SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis, Antoine Tamestit Elbphilharmonie, Hamburg, 30. September 2023

5 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (44): Teodor Currentzis – wer ihn verjagt, schadet der Klassik
klassik-begeistert.de, 1. Januar 2024“

  1. Sehr gut auf den Punkt gebracht, lieber Jürgen! So sehe ich das auch.
    Allerdings mache ich mir keine Sorgen um Teodor Curentzis – starke Persönlichkeiten und Qualitäten setzen sich immer durch, auch gegen Widerstände. Anderen prominenten Künstlern geht es ja nicht anders, denken wir an Thielemann, den man in Dresden und Salzburg den Stuhl vor die Tür stellte, und der gleichwohl unaufhaltsam seinen Weg weiter geht (und das nicht nur dank der ihm sehr verbundenen Wiener Philharmoniker, sondern nun auch als Nachfolger Barenboims an der Lindenoper). Oder auch an Riccardo Muti, der sich in jungen Jahren schon mit Rolf Liebermann an der Pariser Oper rumärgern musste und später den Bruch an der Mailänder Scala zu verkraften hatte. Oder an Sergiu Celibidache, was hat man ihm alles vorgeworfen, ihm immer wieder allerorten Knüppel zwischen die Beine geworfen!! Sein halbes Leben war er auf der Suche und trotzdem ging er als einer der genialsten Dirigenten in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ein.
    Ich bin sicher, dass auch Teodor Currentzis sich langfristig an der Spitze behaupten wird. Zumal es außer den Altmeistern in den Generationen unter 60 nicht allzu viele Große gibt. Man wird ihn also brauchen. Dringend.

    Kirsten Liese

  2. Teodor Currentzis!
    Dieser Name steht für ein Genie!!
    Bekanntlich sind Genies immer umstritten, bekanntlich sind Genies immer geliebt oder verachtet, ihrer Zeit voraus, usw. Viele Weisheiten könnte man dazu noch sagen.
    Wer ihn jedoch bei einem Dirigat erlebt hat und von seiner Interpretation, seiner Musikdarbietung nicht fasziniert ist, egal wie er gekleidet ist…, dem ist nicht zu helfen. Ich habe noch nie zB eine bessere Auslegung von Beethovens 7. gehört, als die Darbietung in Delphi, die es zum Glück wenigstens bei Sony gibt. Leider keine CD mit der Aufnahme in Delphi selbst, des Ereignisses. Solange es im 3 sat nachzusehen war, hab ich’s täglich 3 x gesehen und gehört. Ein Jahrhundert Ereignis!!! Ergreifend, genial, unvergesslich usw ! Dieses Ambiente und die tänzerische Darbietung, die schon Richard Wagner gehört hatte, dazu…. Das gibt’s nur mit einem Genie ! Salzburg, Herr Hinterhäuser, hat auf alle Animositäten gepfiffen, Hut ab! Der riesige Erfolg hat ihm Recht gegeben! Es muss doch einem Künstler das Recht eingeräumt werden, seine künstlerische Tätigkeit auszuüben, ohne politische Kommentare!

    Ich lebe in Wien, bin aus Altersgründen nicht mehr imstande Konzerten mit Herrn Currentzis nachzureisen, was aufgrund der Feigheit der Wiener Veranstalter nötig wäre, um Currentzis zu erleben. Schade!
    Ich hoffe sehr, ihn einmal in Wien noch erleben zu dürfen und mit mir unendlich viele Gleichgesinnte!
    Die klassische Musik hat solche Menschen wie Currentzis dringend nötig!! Mit oder ohne politische Deklarierung!
    Mit freundlichen Grüßen Brigitte Leopold

    1. Liebe Frau Leopold,

      ich fühle mit Ihnen. Zum Glück lässt es mein Gesundheitszustand zu, dass ich Currentzis nachreise. Solange sich die Entfernung in Grenzen hält. „Don Giovanni“, gestern in Salzburg, da hat er wieder bewiesen, dass er jede Reise wert ist. Wien sieht wohl aussichtslos aus. Auf die Frage, ob er da bald wieder auftreten würde, weicht er charmant aber sofort aus: „Wir werden in Budapest auftreten“. Dieselbe Entfernung gefühlt, vermutlich aber kostengünstiger.

      Liebe Grüße
      Jürgen Pathy

      1. Lieber Herr Pathy!
        Danke für die liebe Antwort, ich beneide Sie unendlich um Salzburg!! Freue mich aber mit Ihnen!
        Leider hab ich Ihre Antwort erst heute gelesen, war verhindert. Trotzdem, sehr aufmerksam und sehr dankenswert!
        Selbst Budapest ist nicht so nahe, wie ich in Wien hätte. Sapalot Kulturstadt, wie schade, dass man Wichtigkeiten inzwischen beiseite lässt, um konform zu gehen!
        Ich wünsche Ihnen noch viele schöne Highlights in der Klassik zu hören und zu sehen! Es erweitert den Horizont ungemein.
        Alles Liebe, Brigitte Leopold

  3. Nur zur Vervollständigung: von Thielemann hatte man auch in München und Bayreuth eines Tages genug. So eine Liste kann nicht jeder Taktstockmeister aufweisen…
    Dass Bayreuth ihn zurück holt, ist wohl der großen Not dort und der immerhin vorhandenen Fangemeinde geschuldet.

    Waltraud Becker

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