Beredtes Schweigen – oder: Endlich spricht er!

SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis, Antoine Tamestit  Elbphilharmonie, Hamburg, 30. September 2023

SWR Symphonieorchester / Antoine Tamestit / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Elbphilharmonie, Hamburg, 30. September 2023

SWR Symphonieorchester

Estnischer Nationaler Männerchor 

Antoine Tamestit, Viola 
Alexander Vinogradov, Bass

Teodor Currentzis, Dirigent

Programm:

Marko Nikodijević (*1980)

Gospodi vozvah / salmodia per viola e orchestra (2023) Kompositionsauftrag des SWR

Dmitri Schostakowitsch (1906–1975)
Sinfonie Nr. 13 b-Moll op. 113 »Babi Jar« (1962)

Babi Jar: Adagio
Humor: Allegretto
Im Laden: Adagio
Ängste: Largo
Eine Karriere: Allegretto

„Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.

Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.“

Jewgenij Jewtuschenko:
Babij Jar (übersetzt von Paul Celan)

von Harald Nicolas Stazol

Entweder ich bin mal wieder reif für die Klappse oder ich habe gerade eine Epiphanie: Es entringt sich mir, schuldlos, überwältigt, von Erbschuld endlich, endlich befreit, mit neuer Lebensperspektive, Schostakovitsch 13 machts möglich, und zu meiner eigenen völligen Überraschung, unbeherrscht, reflexartig, „out of mind“, rufe ich nach dem 3. Satz ein „Danke“ in die Stille und das große Rund der Elbphilharmonie, weil Theodor Currentzis ENDLICH sein Schweigen bricht, sein Schweigen gebrochen hat…

„Babi Jar? Was ist das? Klär mich auf?“, fragt die junge Gräfin Fintel mich am Telephon, da bin ich schon out-of-order dank der Einspielung des Moskauer Staatsorchesters unter Kyrill Kondrashin, die ich mir, da er 1962 die Uraufführung gibt, als deren Aufnahme denke…

Babi Jar, was ist das??? Es ist der abscheulich-absolute Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte, einer der Deutschen, ein Massenmord, ein Massaker an 33000 Kindern, Frauen und Männern, die in einer Grube Schicht für Schicht sich auf schon Erschossene legen müssen, um mit deutschen Maschinengewehren erschossen zu werden, wie wir von einer Überlebenden, Dina Pronitschewa, wissen, die das Grauen so schildert:

„Sie mussten sich bäuchlings auf die Leichen der Ermordeten legen und auf die Schüsse warten, die von oben kamen. Dann kam die nächste Gruppe. 36 Stunden lang kamen Juden und starben. Vielleicht waren die Menschen im Sterben und im Tod gleich, aber jeder war anders bis zum letzten Moment, jeder hatte andere Gedanken und Vorahnungen, bis alles klar war, und dann wurde alles schwarz. Manche Menschen starben mit dem Gedanken an andere, wie die Mutter der schönen fünfzehnjährigen Sara, die bat, gemeinsam mit ihrer Tochter erschossen zu werden. Hier war selbst zum Schluss noch eine Sorge: Wenn sie sah, wie ihre Tochter erschossen wurde, würde sie nicht mehr sehen, wie sie vergewaltigt wurde. Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.“

SWR Symphonieorchester / Antoine Tamestit / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Und dieses unfassbare Grauen zähmt Dimitri Schostakovitsch in eine der schönsten, tragischsten, wundervollsten, bei aller Gewalt fragilsten Symphonien seines – und nun auch meines – Lebens. „DANKE!“

Doch dazu kommen wir noch.

Denn im Beginne dieses famosen Gastspiels des SWR Orchesters, und auf einsamem Throne sitzt Antoine Tamestit, der Bratschist. Er spielt auf der ersten von Antonio Stradivari angefertigten Viola aus dem Jahr 1672.

Da bahnt sie sich schon an, die erste Gotteserscheinung: „Den traurigen Anlass zur Komposition dieses Konzerts für Bratsche und Orchester gab der Tod seines verehrten Lehrers Srđan Hofman, der ihn in Belgrad ausgebildet hatte und im September 2021 verstorben war. Für ihn wollte Nikodijević nun ein Gedenkwerk schreiben, und da er sich selbst als religiösen und spirituellen Menschen bezeichnet, lag ein geistlicher Zusammenhang nahe.“

SWR Symphonieorchester / Antoine Tamestit / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Ich kann mich einer Zeitlosigkeit während einer Intonation kaum erinnern, wie Karamel zuckern die Töne, wie die Elbe fliesst es ins Unendliche – Tonwellen, so reinigend wie ein Jungbrunnen –, doch damit genug: Ein SWR Orchester, dass man seine Rundfunkgebühren endlich einmal wohlverwandt weiss.

Und dann die 13.

Man spricht im Foyer von nichts, naja, wenig Anderem, vielmehr ich spreche davon, glaube ich doch jetzt schon an einen Abend von besonderer Sonderheit.

ALEXANDER VINOGRADOV! Wenn ein Mann mit 21 am Bolschoi debütiert hat, muss man die sensibel-gewaltvolle Eleganz dieser Bassstimme geradezu erwarten von ihm, und er enttäuscht nicht: Wie er da über allen steht, in weisser Fliege und stets strammster Haltung, und dabei Töne von sich gibt, deren Endlosigkeit und allein an der zu übersingenden Zeit aller fünf Sätze Dimitris nur noch zu staunenden Ohren und Augen führen kann – man ist von Kunstfertigkeit geradezu erschlagen, wozu der Estnische Nationale Männerchor stimmgewaltig – hier stimmt das Wort einmal – ein tiefes, dreidimensionales Tableau gibt:

SWR Symphonieorchester / Antoine Tamestit / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

„Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an,

mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde
grau.

Und bin – bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und aber
tausend Begrabene hin.

Jeder hier erschossene Greis –: ich. Jedes hier erschossene Kind –: ich.

Nichts, keine Faser in mir, vergißt das je!“

Und diesen Currentzis heute Abend vergisst man auch nie. Der Lackel von Mann, der Lulatsch am Pult, der so mitreissen kann, tsunamihaft, dessen reine Energie uns heute alle befeuert – und dessen peitschenge, schwarze Jeans ihn in den Rang eines Sex-Symbols hebt. Er bäumt auf, wie das Werk, er lässt mitfühlen, er eröffnet fast unerträglicherweise den Blick in ein Massengrab.

SWR Symphonieorchester / Antoine Tamestit / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Dass dies am 30. September vorgetragen wird, dem 81. Jahrestags des Mordens nahe Kiew, mitten unter uns sind die Toten – ich schrieb im SPIEGEL, dass auch ein Currentzis, russisch finanziert oder nicht, das demokratische Recht auf Schweigen hat:

https://www.spiegel.de/kultur/musik/teodor-currentzis-in-der-elphi-wie-bei-einem-rave-a-4bcf6d1e-d488-4584-8f6e-18cd29eac9f6

Mit diesem Konzert hat er eine Antwort gegeben.

DAS war Babi Jar.

Harald Nicolas Stazol, 1. Oktober 2023, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Berliner Philharmoniker, Klaus Mäkelä dirigiert Schostakowitsch und Tschaikowsky Philharmonie Berlin, 22. April 2023

10. Philharmonisches Konzert, Dmitri Schostakowitsch, Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70 Alexander Zemlinsky, Die Seejungfrau Elbphilharmonie, 26. Juni 2022

Dmitri Schostakowitsch, Ludwig van Beethoven, Philharmonisches Orchester Hamburg, Elbphilharmonie, 6. Februar 2022

Ein Gedanke zu „SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis, Antoine Tamestit
Elbphilharmonie, Hamburg, 30. September 2023“

  1. Lieber Harald,

    du Glücklicher! Ich hätte nochmal einiges gegeben, Teodor mit dem SWR live zu erleben. musicAeterna schön und gut – die spielen sauber und fein. Was es allerdings heißt, mit Mahler oder Schostakowitsch die Bude in seinen Bann zu ziehen, da ist das SWR eine ganz andere Liga! Es war ein Trauertag, als Teodor den Chefposten niederlegen musste. Mit musicAeterna waren alle Aufführungen bislang austauschbar, mit den SWR ein Erlebnis für die Ewigkeit.

    Liebe Grüße
    Jürgen

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