Christian Thielemann © Dieter Nagl
Keiner sei nur schlecht, und keiner nur gut. Direktor Bogdan Roščić zeigt viel Verständnis für die Lohengrin-Neuproduktion. Die klassischen Rollenbilder verdrehen Jossi Wieler & Sergio Morabito bei ihrer dritten Produktion an der Wiener Staatsoper. Christian Thieleman ist ebenso auf Linie. „Ein intellektueller Plan, der durchaus nachvollziehbar ist.“ Thielemann fehlte bei der vergangenen Sonntagsmatinee allerdings. Im Musikverein hatten größere Aufgaben auf ihn gewartet.
von Jürgen Pathy
Die „Leistungsschau eines Opernhauses“. Nichts Geringeres, sei der „Lohengrin“, stellt Martin Gantner klar. Riesiger Chor, voller Orchestergraben und schwierige Partien, die es ansprechend zu besetzen gilt. In Salzburg hat Gantner bereits bewiesen, dass er als Telramund auf Zuspruch stößt. In Wien stellt sich der Bariton nun ebenfalls dieser „Premiere“. Eine Co-Produktion mit den Osterfestspielen Salzburg. 2022 hatte Christian Thielemann damit dort seinen Abschied gefeiert. Seine letzte Premiere, nachdem er nach neun Jahren als künstlerischer Leiter die Segel streichen musste.
Zwischen zwei Stühlen
An der Wiener Staatsoper ist Thielemann der große Abwesende bei dieser Sonntagsmatinee. Für Kirill Petrenko ist er im Musikverein Wien eingesprungen. Nachdem dieser „aus gesundheitlichen Gründen“ die Abonnementkonzerte mit den Wiener Philharmonikern kurzfristig absagen musste. Thielemann hat vermutlich dankend übernommen. Mit den Wiener Philharmonikern verbindet ihn eine lange Zusammenarbeit. Auch, wenn es nicht immer so einfach sei. Dieses Orchester fordere ihm alles ab. Damit hat auch der Kapellmeister nicht immer ein leichtes Spiel. Das Publikum liegt ihm in Wien aber zu Füßen.
Passend zur Neuproduktion hat er sich im Musikverein fürs Lohengrin-Vorspiel entschieden. Ein neunminütiges Crescendo, das wieder in einem Decrescendo verhalle. Ein Grund, weshalb Georg Zeppenfeld die Meinung von Christian Thielemann nicht teilt. Der Lohengrin sei die ideale Einsteigeroper bei Richard Wagner, stellt Thielemann in den Raum. Alles von der Leinwand. Bogdan Roščić hatte ihn freitags zuvor im Musikverein Wien vor die Kamera gebeten. Bei einer Aufmerksamkeitsspanne, die bei der Jugend bei maximal 16 Sekunden läge, stellt Georg Zeppenfeld diese These in Frage. Der westfälische Edelbass ist der König dieser Neuproduktion.
Die Neudeutung des Lohengrin
Thielemann liegt allerdings eine ganz andere Frage auf dem Herzen. Würde er Richard Wagner treffen, würde er ihn fragen, warum er die Geschichte rund um Gottfried bis zum Ende totschweigen würde. Jossi Wieler & Sergio Morabito stellen genau dessen Schicksal in den Mittelpunkt. Beim erfolgreichen Regieduo begeht Elsa ganz klar den Brudermord. Liest man Berichte aus Salzburg, fischt Elsa ihren kleinen Bruder als Wasserleiche aus dem Hafen.
Lohengrin und Elsa – die Guten. Telramund und Ortrud – das abgrundtiefe Böse. Diese fast schon dogmatische Sichtweise lassen die beiden so nicht mehr ungefragt im Raum stehen.
Spannend wird es, wie Malin Byström diesen riesigen Spagat bewältigen wird. Sie trifft als Elsa dieser Neuproduktion nicht nur auf Zuspruch. Auf der einen Seite das unschuldige A-Dur, das die beiden Lichtgestalten durch die rund 4 Stunden begleitet. Positiv behaftet, strahlend hell, fast schon wie der heilige Gral. Auf der Bühne soll die fesche Schwedin nun aber gar nicht so das naive Blondchen darstellen. Ein Regie-Kniff, der ihr aber in die Karten spielen könnte. Naiv & reizend wie eine Camilla Nylund, das würde eine Byström mit nur wenig Glaubwürdigkeit auf die Bühne projizieren können.
Elsa & Lohengrin gegenüber steht ein dunkles fis-Moll, das Wagner der Ortrud und dem Telramund um den Hals gehängt hat. Düster und böse eigentlich. Dieser abgrundtiefe Schlund soll sich nun mit Licht füllen. Anja Kampe scheint für diese Neudeutung definitiv prädestiniert. Ihr gar nicht so hochdramatischer Sopran hat die Gabe, dieser bösen Seherin eine Note der Gutmütigkeit zu verleiben. Das hat sie schon in München bewiesen.
Großes Fragezeichen in Wien: David Butt Philip
Der Lohengrin ist in Wien allerdings das größte Fragezeichen. Nicht nur beim Sujet: Ein Ritter, der offen seine Gefühle zeigt, kann in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung nur auf Unbehagen stoßen, stellt Sergio Morabito klar. Ob man mit David Butt Philip den neuen Schwanenritter gefunden hat, daran hegen einige ihre Zweifel. Der 44-jährige Brite steht auch als Walther von Stolzing auf dem Programm der Wiener Staatsoper. Klassische Wagner-Partien also, mit denen Klaus Florian Vogt von einem Erfolg zum anderen segelt. Die Lohengrin-Premiere am 29. April 2024 wird es weisen.
Genauso, ob Thielemann bereit sein wird, aus den Vollen zu schöpfen. Belcanto, fällt an diesem Sonntagvormittag öfters auf der Bühne. Auch der Kapellmeister sieht hier viele Anhaltspunkte. Man müsse genau aufpassen, wann man aufs Gas steigt – wann man bei einem Sänger das Crescendo in die Gänge setzt. Verausgabt man sich zu früh, würden die Kräfte an anderen Stellen schwinden. Darauf wird er sein Augenmerk setzen. Glaubt man den Stimmen aus der Generalprobe, hat der Kapellmeister alles fest im Griff. Man kann nur hoffen, dass ihm die Elsa und der Lohengrin keinen Strich durch die Rechnung ziehen werden.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 27. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“