Pathys Stehplatz 55: Dieses Chaos hat in der Wiener Staatsoper nichts zu suchen

Pathys Stehplatz 55: Dieses Chaos hat in der Wiener Staatsoper nichts zu suchen  klassik-begeistert.de, 11. Oktober 2024

Don Carlo/Wiener Staatsoper © Frol Podlesnyi

Reaktion auf Kommentare zu Serebrennikvos „Don Carlo“-Neuproduktion.

In der Oper MUSS die Musik im Mittelpunkt stehen. Der Dirigent, das Orchester, die Sänger. Die dürfen NICHT von der Szene aufgefressen werden. Sonst können wir die Musik gleich weglassen. Die Bezeichnung „Oper“ in die Tonne stecken. Die Wiener Staatsoper schließen und als „Dr. Roščić Intellectual Institute“ wieder eröffnen.

Spannend, wie manche einen „Leckerbissen“ erkennen wollen. Ein Chaos ist Kirill Serebrennikovs „Don Carlo“ Neuproduktion. Ablenkung in einer Tour.

von Jürgen Pathy

Der König ist ein glanzloser Beamter, der vermeintlich in einer Zahnarztpraxis arbeitet. Auf den ersten Blick wirkt es zumindest so. Das Bühnenbild ist ein Grauen. Mal trägt der König mittelalterliche Hofrobe, mal Business Casual mit Hang zur Biederkeit. Mal steht ein „Avatar“ nackt, mal trägt er spanische Hofkleidung. Die Idee dahinter erfährt man zwar, wenn man die Matinee besucht hat. Ebenso, wenn man das Programmheft liest. Schlüssig wird sie dennoch nicht.

20 – 30 kg hätten solche feierlichen Roben gehabt. Ein Korsett, ein Gefängnis, aus dem man sich befreien muss. Eine Anspielung, das absolutistische Herrschaftsformen einer Befreiung benötigen? Gut möglich, ist ja auch wurscht – ist zu „verkopft“, zu intellektuell, zu viel Philosophie, der nicht jeder folgen kann und WILL.

Regietheater arbeitet nicht immer gegen die Musik

Oper muss von alleine einen Sinn ergeben. Ohne belehrendes Heft. Das funktioniert auch mittels Regietheater. Das Theater an der Wien hat das bewiesen. Unter Intendant Roland Geyer hatte man sich immer wieder positioniert. Als „Barocktheater“, das Monteverdi und Händel als Schwerpunkt setzt. Aber auch auf moderne Inszenierungen, die alles andere als altbacken waren.

Dort gab es Produktionen, die ebenso nicht das Libretto dogmatisch eins zu eins gespiegelt haben. Eher in die Gegenwart gerückt, mit erhobenem Zeigefinger. Beethovens „Egmont“ zum Beispiel. Als Anspielung an den „Euromaidan“, die „Revolution der Würde“, die 2013 in der Ukraine entfacht war.

Das war großartig. Weil die Message, die zugrundeliegende Doppeldeutigkeit, intuitiv zu erahnen war. Auf einen Schlag, ohne viel Ablenkung, ohne Gehirnschmalztraining wie bei Serebrennikovs „Don Carlo“. Explizit sei hier nicht der Name Serebrennikov in schiefe Licht gerückt. Dazu hat sein „Parsifal“ zu viel Lob verdient. Der hat genau diesen Fehler vermieden. Dort gab’s keine große Ablenkung.

Dort hat sich die Szene mit dem Sujet und der Musik in einem Fluss befunden. Hand in Hand, wie aus einem Guss, vom Anfang bis zum Ende. Der „Parsifal“ ist eher kühlere, hellere Musik. Verklärt, wäre die bessere Bezeichnung. Die verträgt diese lakonischen Weiten, die Serebrennikov mittels Videoeinspielungen vermittelt. Diese lange, schwere Wanderschaft des jungen Tors, der durch Mitleid die Weisheit erlangt. Das hat sich ins Gesamtkonzept der Musik einwandfrei gefügt. Kein Focus aufs Belehrende, auf IQ-Training. Die Gedanken können frei fließen und sich zur Ruhe begeben. Das ist alles, was ich von einer Regie erwarte.

Alltag raus aus der Wiener Staatsoper

Es ist 18:00 Uhr, manchmal 20:00 Uhr. Davor liegt ein Tag im Büro, im Homeoffice oder anderswo. Alltag auf jeden Fall: 9 to 5 job, Kohle scheffeln, mehr oder weniger mit sinnvoller Tätigkeit oder nicht. Danach geht’s mit der U3 oder „Bim“ in die Oper.

Dort hat dieser Alltag NIX zu suchen. Dort soll Abwechslung herrschen. Abstand von dem ganzen Zeugs, das einen die restlichen 20 Stunden schon in Geiselhaft nimmt. Fünf Tage die Woche. Dazu die schrecklichen Nachrichten. Tagein, tagaus. Israel, Palästina, Russland, Klima, Rechtsruck, wohin man nur schaut. Das kann vor der Tür bleiben.

Wenn Direktor Bogdan Roščić meint, die Straße in die Oper zerren zu müssen, dann begeht er einen Fehler. Er hat nicht den Auftrag, uns zu belehren. Die Welt zu retten oder uns zu besseren Menschen zu formen. Kirill Serebrennikov ebenso wenig. Schon gar nicht, wenn die Regie sich so in den Mittelpunkt spielt, dass kein Platz für die Musik bleibt. Das passiert bei seiner „Don Carlo“-Produktion.

„What the f**k“, denkt man sich nach 20 Minuten. Was veranstaltet er da auf der Bühne. Wer sind diese Nackten, die bekleidet und entkleidet werden? Warum trägt der König mal Robe, mal Alltagskleidung?

Wer ist überhaupt Elisabetta, wer Eboli, wer ist Marquis de Posa? Ah, eine Gelbweste – anscheinend ein Demonstrant in Paris. Aber halt! – laut Programmheft spielt die Geschichte doch in einem Museum für historische Gewänder. In Japan, „Kyoto Costume Institute“ genannt, das Serebrennikov besucht hat. „Liberta“, steht noch auf Posas schwarzem T-Shirt. Nicht einmal richtig geschrieben, der Akzent auf dem „-a“ fehlt. Schrecklich unästhetisch übrigens. That’s way too much, Sir! Das soll man bitte ins Sprechtheater verfrachten.

Musik heißt das Zauberwort!

In der Oper MUSS die Musik im Mittelpunkt stehen. Der Dirigent, das Orchester, die Sänger. Die dürfen NICHT von der Szene aufgefressen werden. Sonst können wir die Musik gleich weglassen. Die Bezeichnung „Oper“ in die Tonne stecken. Die Wiener Staatsoper schließen und als „Dr. Roščić Intellectual Institute“ wieder eröffnen.

Don Carlo beim Zahnarzt; Violetta, die in WhatsApp-Nachrichten versinkt; oder Lohengrin, der zu einer Persiflage verkommt – Nein, Danke! Dafür kann’s nur eines geben: ein vehementes Buh!

Jürgen Pathy, 11. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de

Pathys Stehplatz 54: Direktor Bogdan Roščić verwechselt das Haus mit einem Independent-Schuppen klassik-begeistert, 2. Oktober 2024

Giuseppe Verdi, Don Carlo Wiener Staatsoper, 6. Oktober 2024

Giuseppe Verdi, Don Carlo Wiener Staatsoper, 26. September 2024 PREMIERE

4 Gedanken zu „Pathys Stehplatz 55: Dieses Chaos hat in der Wiener Staatsoper nichts zu suchen
klassik-begeistert.de, 11. Oktober 2024“

  1. Ich habe diese Inszenierung gesehen und ich habe mich nicht verwirren lassen, indem ich mich voll auf die Musik und das darin behandelte Drama konzentriert habe. Die Inszenierung habe ich nur mit einem nebensächlichen Auge aufgenommen (und habe die szenischen Absichten von Serebrennikovs Inszenierung trotz allem Schmarren gut verstanden). Ich fand den Opernabend trotz allem gelungen, ja großartig. Das lag natürlich an den Sängern und am Dirigenten und Orchester.
    Ja, der Pathy hat recht mit seinen Kommentaren! Diese abstrusen Inszenierungen können die Oper aushöhlen und zerstören. Aber Gott bewahre uns auch von den dümmlichen, vermeintlich richtig historischen Inszenierungen. Die langweilen doch nur. Intelligent und anspruchsvoll dürfen, ja müssen sie sein.

    Hans-Peter Scheidegger

  2. Lieber Herr Pathy, Bitte nicht erschrecken, denn ich teile fast eins-zu-eins Ihre Meinung (nur bei Parsifal hege ein paar Zweifel, dafür sah ich öfters in Hamburg Vorstellungen von Serebrennikovs Nabucco-Produktion, die bewiesen, daß er sehr wohl ordentlich inszenieren kann, er muß nur wollen)! Ich habe sogar über Ihre Beschreibung des Büro-Alltags laut gelacht! Mein Gott, wenn ich an die vielen Abende in der Oper denke, die mir den Alltag vergessen ließen!!! Kämpfen Sie mit ganzer Seele weiter! Ich empfehle folgende Kommentare, die beweisen, WIR ZWEI SIND NICHT ALLEIN! LG von Sheryl Cupps
    LIebe Online-Merker-Redaktion,
    Sie haben den Artikel in der Presse zum Buh-Orkan bei der Premiere von Don Carlo an der Wiener Staatsoper kommentiert. Erlauben Sie mir dazu folgende Gedanken:
    Natürlich ist es so eine Sache mit den Buh-Rufen und selbstverständlich ist es für keinen Künstler schön so etwas zu erleben. Mit Ausnahme vielleicht solcher Künstler wie Herrn Serebrennikov, welcher den Buh-Orkan ja scheinbar genossen hat.
    Doch vergessen wir hier drei wichtige Punkte nicht:

    Der Bühnenfaktor
    Schauspieler und somit auch Opernsänger sind sogenannte „Rampensäue“. Sie brauchen und wollen die Öffentlichkeit, die Bühne mitsamt dem Publikum (nicht ohne dieses wie während der Lockdowns) sind für sie die sprichwörtlichen „Bretter, die die Welt bedeuten“. Zu diesem Exponieren in der Öffentlichkeit gehört auch, mit Widerspruch leben zu müssen. Es ist als schrieben wir eine böse Kritik und wären ganz furchtbar pikiert, wenn darauf eine Gegenrede folgt. Nein – das ist „einzupreisen“, wer den Ruhm will, der muss auch mit der Ablehnung leben können. Im Idealfall spornt sie zu besseren, ja manchmal sogar Höchstleistungen an (wie zuletzt bei Philippe Jordan, dessen musikalische Gestaltung des Don Carlo nach der doch eher „durchwachsenen“ musikalischen Qualität der Premiere signifikant besser wurde).
    Der Premierenfaktor

    Natürlich muss ich mir etwas nicht anschauen, das mir nicht gefällt. Nur wie soll ich dies bei einer Premiere wissen? Insbesondere wenn die Produktion mit historischen Kostümen beworben wird und sich diese dann doch als sündhaft teure Verhohnepipelung herausstellen?
    Und das gilt für die gesamte erste Serie, deren Karten ja schon weit im Voraus bestellt, bezahlt und wenn überhaupt nur noch im Kommissionsverkauf wieder loszubekommen sind. Und dann sitzt man dann doch dort und muss etwas sehen, was unter Umständen weit mehr als 200€ pro Person gekostet hat und schlicht als Hohn zu bezeichnen ist. Da ist ein Buh mehr als gerechtfertigt. Insbesondere wenn davon auszugehen ist, daß Serebrennikov sehr wohl wusste, wie das Wiener Publikum auf eine solche Inszenierung reagieren würde und lustvoll davon Gebrauch gemacht hat.
    3. Der Roščić -Faktor
    Don Carlo reiht sich in eine mittlerweile lange Reihe unrühmlicher Neuproduktionen, deren Akzeptanz beim Publikum gelinde gesagt eher gering war und ist. Dies begann mit Simon Stones Traviata, Serebrennikovs Parsifal und Barrie Koskys Don Giovanni, über Cyril Testes Salome, Calixto Bieitos Tristan, und Von der Liebe Tod, bis hin zu Tatjana Gürbacas Trittico und Claus Guths Turandot. Und nun eben Don Carlo, eine der wichtigsten Opern im Schaffen Giuseppe Verdis, eine der Grand Operas schlechthin und ein Heiligtum für jeden Opernliebhaber. Nicht nur, daß die Qualität dieser Produktionen immer schlechter wurde (letztlich sind sie in ihrer Darstellung auch fast alle vollkommen austauschbar und belanglos), parallel dazu wurde die Stimmung des Wiener Stammpublikums nachvollziehbarer Weise immer gereizter. Selbst umfangreich zurückhaltende Charaktere sind nach diesem Don Carlo nicht mehr willens, an sich zu halten und kommentierten diese Neuproduktion mit einem deftigen Fäkalausdruck. Denn wir alle wissen: Da kommt noch mehr!
    Vergessen wir auch die Kosten dieses absurden Regietheaters nicht: Wieviel tausende Euro hat die Rekonstruktion der Don Carlo Kostüme denn eigentlich gekostet? Und dies, um sie letztlich verächtlich zu machen, also gar nicht in ihrem eigentlichen Sinne zu nutzen? Ein teurer, man will schon sagen: dekadenter Spaß. Es ist schon ein Hohn, wenn man an der Staatsoper kommuniziert, daß nun auch die Bundestheater-Tickets nun im Preis erhöht werden müssten, da die allgemeine Teuerung zu buche schlage (welche im August übrigens nur noch bei 2,4% und im September zu Saisonbeginn bei 1,8% lag), das Haus ohnehin absurd hohe Preise auch auf Plätzen mit Sichteinschränkung verlangt, gleichzeitig aber das Geld für solche Produktionen und natürlich eine Inflationsangleichung des Direktorengehalts (und vermutlich auch für die neu geschaffenen Stellen des Castingdirektors, als auch des Chefdramaturgen, etc) mit vollen Händen ausgegeben, ja zum Fenster herausgeschmissen wird.
    Offensichtlich vergisst Bogdan Roščić, dass er hier mit dem Steuergeld exakt jener Menschen arbeitet, die nun bei Don Carlo zum wiederholten, aber deutlichsten Maße ihren Unmut kundgetan haben. Egal wer zahlt und wie viel: Das Publikum ist der Chef und wenn es diesem nicht gefällt darf, ja muss sogar gebuht werden, um diesem Regietheater-Irrsinn etwas entgegenzusetzen. Deutlich mehr Demut und eine Änderung der Hauspolitik wären hier also angebracht. Man male sich aus, was bei einem privatwirtschaftlichen Unternehmen dieser Größenordnung geschähe, welches ein bereinigtes Defizit von 74 Millionen € vorzuweisen hat, der Bestand eines solchen wäre von kurzer Dauer…
    Fazit
    Wohin also soll das nun alles noch führen? Richtig halten Sie fest, daß zumindest bis zur ersten Pause Touristen das Haus auch in Zukunft weiter bevölkern werden (wenngleich die Besucherzahlen in der Saison 22/ 23 mit lediglich knapp 570.000 die zweitniedrigsten seit 2013 waren). Doch kann dies nicht als Legitimation für die Verwendung von 78 Mio € an Steuergeldern (Basisabgeltung Saison 22/ 23) dienen. Denn in Bezug auf die Staatsoper bringt der Tourist unter dem Strich keinen Gewinn, er lindert nur das Ausmaß der zugeschossenen Steuergelder.
    In einem unlängst geführten Gespräch im Nachgang zur Don Carlo Premiere kam dann folgende Idee auf: Zu Recht wurde da angemerkt, daß die Inszenierung zwar das Allerletzte, die musikalische Qualität sowohl in Dirigat, Klang des Staatsopernorchester und Gesang mittlerweile durchaus gut sei, nachdem sich die Serie nun nach einigen Abenden eingespielt habe. Warum dann also nicht einfach konzertant spielen? Denn da sei das Ergebnis wie beim diesjährigen Capriccio in Salzburg ganz wunderbar und man brauche sich nicht mit Auswüchsen des Regietheaters herumärgern. Gute Idee: Dann bräuchten wir kein Opernhaus mehr, sondern ein Konzerthaus. Und die gibt es ja bereits in Wien. Schließen wir doch die Wiener Staatsoper und spielen Oper nur noch konzertant! Das spart uns Millionen an Steuergeldern, lässt uns dennoch am musikalischen Genuss teilhaben und nach dem Abend wesentlich ruhiger schlafen. Auch Freunde des Regietheaters dürften so frohlocken: Kann es denn mehr Dekonstruktion eines Werkes geben als das Nichtvorhandensein einer Produktion? Na eben…
    Natürlich ist dies kein ernstzunehmender, sondern ein sarkastischer Vorschlag. Oper ist ein Gesamtkunstwerk, wohl die Krone aller Künste, die eben dezidiert auch das visuelle Element durch die Gestaltung der Bühne mit einschließt. Aber vielleicht ist die Lage zwar ernst, aber nicht hoffnungslos: Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer ist ja bereits zurückgetreten, um sich auf Kosten des Steuerzahlers eine komfortable Versorgung im Stab des hohen Bundespräsidenten zu sichern. Wer weiss wer nun folgt, bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt, doch wie heißt es in Schillers Don Carlos doch so richtig: „Die Toten stehen nicht mehr auf“. Wobei das nur bedingt stimmt, denn durch ihre Musik leben Komponisten weiter, so auch Giuseppe Verdi, der am heutigen 9. Oktober (oder auch am 10., genau weiss man es nicht) 1813 geboren wurde. Na dann doch lieber: „Viva V E R D I !“.
    Mit den besten Wünschen,

    Sheryl Cupps

  3. Ich gehe in die Oper um schöne Musik mit tollen Sängern zu hören und sehen… mit einem zum Stück dazugehörenden Bühnenbild.
    Das Schreckliche ist, das zur Zeit weltweit vorkommt, muss vor der Oper enden.

    ilse dominici

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