Don Carlo/Wiener Staatsoper © Frol Podlesnyi
Reaktion auf Kommentare zu Serebrennikvos „Don Carlo“-Neuproduktion.
In der Oper MUSS die Musik im Mittelpunkt stehen. Der Dirigent, das Orchester, die Sänger. Die dürfen NICHT von der Szene aufgefressen werden. Sonst können wir die Musik gleich weglassen. Die Bezeichnung „Oper“ in die Tonne stecken. Die Wiener Staatsoper schließen und als „Dr. Roščić Intellectual Institute“ wieder eröffnen.
Spannend, wie manche einen „Leckerbissen“ erkennen wollen. Ein Chaos ist Kirill Serebrennikovs „Don Carlo“ Neuproduktion. Ablenkung in einer Tour.
von Jürgen Pathy
Der König ist ein glanzloser Beamter, der vermeintlich in einer Zahnarztpraxis arbeitet. Auf den ersten Blick wirkt es zumindest so. Das Bühnenbild ist ein Grauen. Mal trägt der König mittelalterliche Hofrobe, mal Business Casual mit Hang zur Biederkeit. Mal steht ein „Avatar“ nackt, mal trägt er spanische Hofkleidung. Die Idee dahinter erfährt man zwar, wenn man die Matinee besucht hat. Ebenso, wenn man das Programmheft liest. Schlüssig wird sie dennoch nicht.
20 – 30 kg hätten solche feierlichen Roben gehabt. Ein Korsett, ein Gefängnis, aus dem man sich befreien muss. Eine Anspielung, das absolutistische Herrschaftsformen einer Befreiung benötigen? Gut möglich, ist ja auch wurscht – ist zu „verkopft“, zu intellektuell, zu viel Philosophie, der nicht jeder folgen kann und WILL.
Regietheater arbeitet nicht immer gegen die Musik
Oper muss von alleine einen Sinn ergeben. Ohne belehrendes Heft. Das funktioniert auch mittels Regietheater. Das Theater an der Wien hat das bewiesen. Unter Intendant Roland Geyer hatte man sich immer wieder positioniert. Als „Barocktheater“, das Monteverdi und Händel als Schwerpunkt setzt. Aber auch auf moderne Inszenierungen, die alles andere als altbacken waren.
Dort gab es Produktionen, die ebenso nicht das Libretto dogmatisch eins zu eins gespiegelt haben. Eher in die Gegenwart gerückt, mit erhobenem Zeigefinger. Beethovens „Egmont“ zum Beispiel. Als Anspielung an den „Euromaidan“, die „Revolution der Würde“, die 2013 in der Ukraine entfacht war.
Das war großartig. Weil die Message, die zugrundeliegende Doppeldeutigkeit, intuitiv zu erahnen war. Auf einen Schlag, ohne viel Ablenkung, ohne Gehirnschmalztraining wie bei Serebrennikovs „Don Carlo“. Explizit sei hier nicht der Name Serebrennikov in schiefe Licht gerückt. Dazu hat sein „Parsifal“ zu viel Lob verdient. Der hat genau diesen Fehler vermieden. Dort gab’s keine große Ablenkung.
Dort hat sich die Szene mit dem Sujet und der Musik in einem Fluss befunden. Hand in Hand, wie aus einem Guss, vom Anfang bis zum Ende. Der „Parsifal“ ist eher kühlere, hellere Musik. Verklärt, wäre die bessere Bezeichnung. Die verträgt diese lakonischen Weiten, die Serebrennikov mittels Videoeinspielungen vermittelt. Diese lange, schwere Wanderschaft des jungen Tors, der durch Mitleid die Weisheit erlangt. Das hat sich ins Gesamtkonzept der Musik einwandfrei gefügt. Kein Focus aufs Belehrende, auf IQ-Training. Die Gedanken können frei fließen und sich zur Ruhe begeben. Das ist alles, was ich von einer Regie erwarte.
Alltag raus aus der Wiener Staatsoper
Es ist 18:00 Uhr, manchmal 20:00 Uhr. Davor liegt ein Tag im Büro, im Homeoffice oder anderswo. Alltag auf jeden Fall: 9 to 5 job, Kohle scheffeln, mehr oder weniger mit sinnvoller Tätigkeit oder nicht. Danach geht’s mit der U3 oder „Bim“ in die Oper.
Dort hat dieser Alltag NIX zu suchen. Dort soll Abwechslung herrschen. Abstand von dem ganzen Zeugs, das einen die restlichen 20 Stunden schon in Geiselhaft nimmt. Fünf Tage die Woche. Dazu die schrecklichen Nachrichten. Tagein, tagaus. Israel, Palästina, Russland, Klima, Rechtsruck, wohin man nur schaut. Das kann vor der Tür bleiben.
Wenn Direktor Bogdan Roščić meint, die Straße in die Oper zerren zu müssen, dann begeht er einen Fehler. Er hat nicht den Auftrag, uns zu belehren. Die Welt zu retten oder uns zu besseren Menschen zu formen. Kirill Serebrennikov ebenso wenig. Schon gar nicht, wenn die Regie sich so in den Mittelpunkt spielt, dass kein Platz für die Musik bleibt. Das passiert bei seiner „Don Carlo“-Produktion.
„What the f**k“, denkt man sich nach 20 Minuten. Was veranstaltet er da auf der Bühne. Wer sind diese Nackten, die bekleidet und entkleidet werden? Warum trägt der König mal Robe, mal Alltagskleidung?
Wer ist überhaupt Elisabetta, wer Eboli, wer ist Marquis de Posa? Ah, eine Gelbweste – anscheinend ein Demonstrant in Paris. Aber halt! – laut Programmheft spielt die Geschichte doch in einem Museum für historische Gewänder. In Japan, „Kyoto Costume Institute“ genannt, das Serebrennikov besucht hat. „Liberta“, steht noch auf Posas schwarzem T-Shirt. Nicht einmal richtig geschrieben, der Akzent auf dem „-a“ fehlt. Schrecklich unästhetisch übrigens. That’s way too much, Sir! Das soll man bitte ins Sprechtheater verfrachten.
Musik heißt das Zauberwort!
In der Oper MUSS die Musik im Mittelpunkt stehen. Der Dirigent, das Orchester, die Sänger. Die dürfen NICHT von der Szene aufgefressen werden. Sonst können wir die Musik gleich weglassen. Die Bezeichnung „Oper“ in die Tonne stecken. Die Wiener Staatsoper schließen und als „Dr. Roščić Intellectual Institute“ wieder eröffnen.
Don Carlo beim Zahnarzt; Violetta, die in WhatsApp-Nachrichten versinkt; oder Lohengrin, der zu einer Persiflage verkommt – Nein, Danke! Dafür kann’s nur eines geben: ein vehementes Buh!
Jürgen Pathy, 11. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de
Giuseppe Verdi, Don Carlo Wiener Staatsoper, 6. Oktober 2024
Giuseppe Verdi, Don Carlo Wiener Staatsoper, 26. September 2024 PREMIERE
Ich habe diese Inszenierung gesehen und ich habe mich nicht verwirren lassen, indem ich mich voll auf die Musik und das darin behandelte Drama konzentriert habe. Die Inszenierung habe ich nur mit einem nebensächlichen Auge aufgenommen (und habe die szenischen Absichten von Serebrennikovs Inszenierung trotz allem Schmarren gut verstanden). Ich fand den Opernabend trotz allem gelungen, ja großartig. Das lag natürlich an den Sängern und am Dirigenten und Orchester.
Ja, der Pathy hat recht mit seinen Kommentaren! Diese abstrusen Inszenierungen können die Oper aushöhlen und zerstören. Aber Gott bewahre uns auch von den dümmlichen, vermeintlich richtig historischen Inszenierungen. Die langweilen doch nur. Intelligent und anspruchsvoll dürfen, ja müssen sie sein.
Hans-Peter Scheidegger
Lieber Herr Pathy, Bitte nicht erschrecken, denn ich teile fast eins-zu-eins Ihre Meinung (nur bei Parsifal hege ein paar Zweifel, dafür sah ich öfters in Hamburg Vorstellungen von Serebrennikovs Nabucco-Produktion, die bewiesen, daß er sehr wohl ordentlich inszenieren kann, er muß nur wollen)! Ich habe sogar über Ihre Beschreibung des Büro-Alltags laut gelacht! Mein Gott, wenn ich an die vielen Abende in der Oper denke, die mir den Alltag vergessen ließen!!! Kämpfen Sie mit ganzer Seele weiter! Ich empfehle folgende Kommentare, die beweisen, WIR ZWEI SIND NICHT ALLEIN! LG von Sheryl Cupps
LIebe Online-Merker-Redaktion,
Sie haben den Artikel in der Presse zum Buh-Orkan bei der Premiere von Don Carlo an der Wiener Staatsoper kommentiert. Erlauben Sie mir dazu folgende Gedanken:
Natürlich ist es so eine Sache mit den Buh-Rufen und selbstverständlich ist es für keinen Künstler schön so etwas zu erleben. Mit Ausnahme vielleicht solcher Künstler wie Herrn Serebrennikov, welcher den Buh-Orkan ja scheinbar genossen hat.
Doch vergessen wir hier drei wichtige Punkte nicht:
Der Bühnenfaktor
Schauspieler und somit auch Opernsänger sind sogenannte „Rampensäue“. Sie brauchen und wollen die Öffentlichkeit, die Bühne mitsamt dem Publikum (nicht ohne dieses wie während der Lockdowns) sind für sie die sprichwörtlichen „Bretter, die die Welt bedeuten“. Zu diesem Exponieren in der Öffentlichkeit gehört auch, mit Widerspruch leben zu müssen. Es ist als schrieben wir eine böse Kritik und wären ganz furchtbar pikiert, wenn darauf eine Gegenrede folgt. Nein – das ist „einzupreisen“, wer den Ruhm will, der muss auch mit der Ablehnung leben können. Im Idealfall spornt sie zu besseren, ja manchmal sogar Höchstleistungen an (wie zuletzt bei Philippe Jordan, dessen musikalische Gestaltung des Don Carlo nach der doch eher „durchwachsenen“ musikalischen Qualität der Premiere signifikant besser wurde).
Der Premierenfaktor
Natürlich muss ich mir etwas nicht anschauen, das mir nicht gefällt. Nur wie soll ich dies bei einer Premiere wissen? Insbesondere wenn die Produktion mit historischen Kostümen beworben wird und sich diese dann doch als sündhaft teure Verhohnepipelung herausstellen?
Und das gilt für die gesamte erste Serie, deren Karten ja schon weit im Voraus bestellt, bezahlt und wenn überhaupt nur noch im Kommissionsverkauf wieder loszubekommen sind. Und dann sitzt man dann doch dort und muss etwas sehen, was unter Umständen weit mehr als 200€ pro Person gekostet hat und schlicht als Hohn zu bezeichnen ist. Da ist ein Buh mehr als gerechtfertigt. Insbesondere wenn davon auszugehen ist, daß Serebrennikov sehr wohl wusste, wie das Wiener Publikum auf eine solche Inszenierung reagieren würde und lustvoll davon Gebrauch gemacht hat.
3. Der Roščić -Faktor
Don Carlo reiht sich in eine mittlerweile lange Reihe unrühmlicher Neuproduktionen, deren Akzeptanz beim Publikum gelinde gesagt eher gering war und ist. Dies begann mit Simon Stones Traviata, Serebrennikovs Parsifal und Barrie Koskys Don Giovanni, über Cyril Testes Salome, Calixto Bieitos Tristan, und Von der Liebe Tod, bis hin zu Tatjana Gürbacas Trittico und Claus Guths Turandot. Und nun eben Don Carlo, eine der wichtigsten Opern im Schaffen Giuseppe Verdis, eine der Grand Operas schlechthin und ein Heiligtum für jeden Opernliebhaber. Nicht nur, daß die Qualität dieser Produktionen immer schlechter wurde (letztlich sind sie in ihrer Darstellung auch fast alle vollkommen austauschbar und belanglos), parallel dazu wurde die Stimmung des Wiener Stammpublikums nachvollziehbarer Weise immer gereizter. Selbst umfangreich zurückhaltende Charaktere sind nach diesem Don Carlo nicht mehr willens, an sich zu halten und kommentierten diese Neuproduktion mit einem deftigen Fäkalausdruck. Denn wir alle wissen: Da kommt noch mehr!
Vergessen wir auch die Kosten dieses absurden Regietheaters nicht: Wieviel tausende Euro hat die Rekonstruktion der Don Carlo Kostüme denn eigentlich gekostet? Und dies, um sie letztlich verächtlich zu machen, also gar nicht in ihrem eigentlichen Sinne zu nutzen? Ein teurer, man will schon sagen: dekadenter Spaß. Es ist schon ein Hohn, wenn man an der Staatsoper kommuniziert, daß nun auch die Bundestheater-Tickets nun im Preis erhöht werden müssten, da die allgemeine Teuerung zu buche schlage (welche im August übrigens nur noch bei 2,4% und im September zu Saisonbeginn bei 1,8% lag), das Haus ohnehin absurd hohe Preise auch auf Plätzen mit Sichteinschränkung verlangt, gleichzeitig aber das Geld für solche Produktionen und natürlich eine Inflationsangleichung des Direktorengehalts (und vermutlich auch für die neu geschaffenen Stellen des Castingdirektors, als auch des Chefdramaturgen, etc) mit vollen Händen ausgegeben, ja zum Fenster herausgeschmissen wird.
Offensichtlich vergisst Bogdan Roščić, dass er hier mit dem Steuergeld exakt jener Menschen arbeitet, die nun bei Don Carlo zum wiederholten, aber deutlichsten Maße ihren Unmut kundgetan haben. Egal wer zahlt und wie viel: Das Publikum ist der Chef und wenn es diesem nicht gefällt darf, ja muss sogar gebuht werden, um diesem Regietheater-Irrsinn etwas entgegenzusetzen. Deutlich mehr Demut und eine Änderung der Hauspolitik wären hier also angebracht. Man male sich aus, was bei einem privatwirtschaftlichen Unternehmen dieser Größenordnung geschähe, welches ein bereinigtes Defizit von 74 Millionen € vorzuweisen hat, der Bestand eines solchen wäre von kurzer Dauer…
Fazit
Wohin also soll das nun alles noch führen? Richtig halten Sie fest, daß zumindest bis zur ersten Pause Touristen das Haus auch in Zukunft weiter bevölkern werden (wenngleich die Besucherzahlen in der Saison 22/ 23 mit lediglich knapp 570.000 die zweitniedrigsten seit 2013 waren). Doch kann dies nicht als Legitimation für die Verwendung von 78 Mio € an Steuergeldern (Basisabgeltung Saison 22/ 23) dienen. Denn in Bezug auf die Staatsoper bringt der Tourist unter dem Strich keinen Gewinn, er lindert nur das Ausmaß der zugeschossenen Steuergelder.
In einem unlängst geführten Gespräch im Nachgang zur Don Carlo Premiere kam dann folgende Idee auf: Zu Recht wurde da angemerkt, daß die Inszenierung zwar das Allerletzte, die musikalische Qualität sowohl in Dirigat, Klang des Staatsopernorchester und Gesang mittlerweile durchaus gut sei, nachdem sich die Serie nun nach einigen Abenden eingespielt habe. Warum dann also nicht einfach konzertant spielen? Denn da sei das Ergebnis wie beim diesjährigen Capriccio in Salzburg ganz wunderbar und man brauche sich nicht mit Auswüchsen des Regietheaters herumärgern. Gute Idee: Dann bräuchten wir kein Opernhaus mehr, sondern ein Konzerthaus. Und die gibt es ja bereits in Wien. Schließen wir doch die Wiener Staatsoper und spielen Oper nur noch konzertant! Das spart uns Millionen an Steuergeldern, lässt uns dennoch am musikalischen Genuss teilhaben und nach dem Abend wesentlich ruhiger schlafen. Auch Freunde des Regietheaters dürften so frohlocken: Kann es denn mehr Dekonstruktion eines Werkes geben als das Nichtvorhandensein einer Produktion? Na eben…
Natürlich ist dies kein ernstzunehmender, sondern ein sarkastischer Vorschlag. Oper ist ein Gesamtkunstwerk, wohl die Krone aller Künste, die eben dezidiert auch das visuelle Element durch die Gestaltung der Bühne mit einschließt. Aber vielleicht ist die Lage zwar ernst, aber nicht hoffnungslos: Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer ist ja bereits zurückgetreten, um sich auf Kosten des Steuerzahlers eine komfortable Versorgung im Stab des hohen Bundespräsidenten zu sichern. Wer weiss wer nun folgt, bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt, doch wie heißt es in Schillers Don Carlos doch so richtig: „Die Toten stehen nicht mehr auf“. Wobei das nur bedingt stimmt, denn durch ihre Musik leben Komponisten weiter, so auch Giuseppe Verdi, der am heutigen 9. Oktober (oder auch am 10., genau weiss man es nicht) 1813 geboren wurde. Na dann doch lieber: „Viva V E R D I !“.
Mit den besten Wünschen,
Sheryl Cupps
Auf den Punkt gebracht, lieber Kollege! Chapeau! Genauso beurteile ich die Lage auch. In Berlin ist es leider nicht besser.
Viele Grüße, Kirsten
Ich gehe in die Oper um schöne Musik mit tollen Sängern zu hören und sehen… mit einem zum Stück dazugehörenden Bühnenbild.
Das Schreckliche ist, das zur Zeit weltweit vorkommt, muss vor der Oper enden.
ilse dominici
Ich verstehe den fast hysterischen Hype um die ablehnenden Reaktionen beim Wiener „Don Carlos“ mit allen Folgediskussionen nicht. Man gewinnt den Eindruck, es hätte an der Staatsoper nie ähnliche Lärmereien gegeben. Diese jetzigen waren noch dazu so was von vorhersehbar.
„Parsifal“ war eine Premiere ohne Publikum, aber ich bin überzeugt, hätte sich Serebrennikow da verbeugt, wäre ein noch größerer Buh-Orkan losgegangen.
Dem „Parsifal“ konnte ich, wie Sie, viel abgewinnen. Der „Don Carlo“ ist für mein Empfinden missglückt. Sie nennen die Absichten des Regisseurs „zu ‚verkopft‘, zu intellektuell, zu viel Philosophie“, ich würde eine Bezeichnung aus der Umgangssprache, einer Sprachebene, die sie zu bevorzugen scheinen, verwenden: „Hirnwichserei“.
Was gab es in der Staatsoper in den letzten Jahrzehnten für turbulente Premieren, wie wurde im Theater an der Wien unter Stefan Geyer bei mindestens der Hälfte aller Premieren getobt, ganz zu schweigen von den von Publikumsprotesten hinweggefegten Neuinszenierungen unter Stefan Herheims Direktion.
Warum gerade jetzt ein wochenlanger Protest in den Medien und Foren beim „Don Carlo“? Die Wortgefechte nach dem 3. Akt beim Szenenumbau, die zu Jordans Geste mit dem weißen Tüchlein geführt haben, kamen von „Stimmen aus der Höhe“. Im Parkett hörte ich niemand witzlose Kommentare von sich geben. Es waren übrigens nur Männerstimmen zu vernehmen. Am Schluss wurde jedoch auch im Parkett getobt.
Im „Parsifal“ war ich von der Optik nicht weniger „abgelenkt“ als im „Don Carlo“, aber da ich bei jeder Opernaufführung ein Gesamtkunstwerk erwarte, machen mich Librettobebilderung und Stehtheater eher unrund. Ich erwarte mir Interpretation, musikalisch und szenisch.
Dass ich den Alltag zu Hause lasse, ist wohl selbstverständlich. Nicht zu Hause kann ich das lassen, was ich im Laufe meines Lebens über Mensch und Welt erfahren habe, ebenso die Widersprüche unserer Gegenwart. Und alle Assoziationen, die damit verbunden sind. Das sind ja auch die Themen der heute noch interessanten Werke der Vergangenheit. Wenn eine Aufführung nicht darauf bezogen werden kann, taugt sie nichts. Denn über das Spanien des 16. Jahrhundert erfährt man im „Don Carlos“ nichts. Weder bei Verdi noch bei Schiller.
Ich denke daher, dieser Hype hat eher damit zu tun, dass sich manche wegen der großen Widersprüche unserer Zeit in einen schönen, womöglich verklärenden Schein vergangener Opernwerke flüchten möchten. Dann aber hat man das, was die großen Komponisten wollten, gründlich missverstanden.
Rolf Datzmann
Danke für die klaren Worte. Mit „Hirnwichserei“ treffen Sie ins Schwarze. Das ist das schöne an der Wiener Sprache. „Orsch“ war’s oder „leiwand“ – und jeder weiß, was man meint. Mit einem Wort.
Das soll kein Plädoyer sein für Stehbühnen, Partitur-Diktatoren oder wie es Barrie Kosky bezeichnet: Vor an die Rampe und singen. Regisseure sollen sich nur ihre abstrusen „Hirnwichserein“ sparen. „Parsifal“ war für mich gelungen. Eine Vorstellung, die ich gerne wieder besuche. Wegen des Gesamtpakets sogar, nicht nur wegen der Musik.
Bei „La Traviata“ überleg ich’s mir zweimal… Obwohl Simon Stones „Überschreibung“ vermutlich nicht in die Kategorie Regietheater fallen dürfte, zieht man die Definition des Online Merker in Erwägung. Eher eine „zeitgenössische Inszenierung“.
Dennoch zu viel Alltag, zu viel Ablenkung, zu viel Kitsch.
Bei „Turandot“ überleg‘ ichs’s mir dreimal. Claus Guth hat die Goldene Ananas verdient. Für das schäbigste Bühnenbild ever. Bei „Don Carlo“ ebenso. Ein Chaos auf allen Linien. Den „Lohengrin“ haben sie überhaupt ins Lächerliche gezogen. Ein Witz, was Kostümbildnerin Anna Viebrock uns da vor die Nase setzt. Wie sie zu ihren unzähligen Preisen gekommen ist – ein Rätsel!
Das Mittelmaß zu finden und zu bedienen, ist Direktor Roščićs Aufgabe. Die Waage soll es sich halten. Zwischen „Regietheater“, „zeitgenössischen Inszenierungen“ und klassischen Inszenierungen. Das muss man ihm deutlich unter die Nase reiben. Sonst verpeilt er abzuspringen. Vom Zug, der gerade Vollfahrt aufnimmt. In Richtung überbordendes „Regietheater“, das zwar Aufmerksamkeit auf sich zieht. An der Oper aber vom Wesentlichen ablenkt – der Musik, die ganz klar im Mittelpunkt stehen muss.
Jürgen Pathy
Vielen herzlichen Dank!
Waltraud Becker
Anmerkung der Redaktion: Dies ist der erste positive Kommentar von Frau Becker seit Jahren.
Andreas Schmidt, Herausgeber
Donnerwetter, da hat sich der Wiener Wutbürger mit kübelweise ausgegossenem Hass ausgetobt, nach dem Motto, der Bote wird geköpft, nicht etwa der Täter zur Verantwortung gezogen“ eigentlich muss bei solcher Wutreaktion der Regisseur doch in ein Wespennest gestochen haben. Irgendwie erinnerte mich die Einstellung des Publikums und der Kritiker an die berühmten 3 Affen: nichts sehen, nichts hören und nichts sagen, ich habe noch nie eine solche Verachtung des Intellekts und des Verstandes erfahren, wie sie hier zum Ausdruck kam: ein einziges Hohelied auf die Ignoranz und ein vollkommenes Missverständnis, was Kunst (Oper) kann und soll. Mit Sicherheit wollte Verdi modern ausgesprochen keinen Hollywood Blockbuster komponieren: es geht schon um die immer währenden Strukturen im menschlichen Handeln in der Politik Gewalt und Gier, Ausbeutung und Zerstörung oder wie der Pabst zu sagen pflegt: Kapitalismus tötet, dieses anhand eines Teilaspektes, nämlich die abartige Kleidungsproduktion mit aller Ausbeutung und weiteren Umweltschäden zu zeigen ist durchaus im Sinne des Erfinders (s.i. Übrigen SZ vorige Woche mit gleich zwei Artikeln) Die Assoziation an das Habsburger Weltreich mit Seehandel im großen Stil und Ausbeutung der neuen und alten Welt (Asien) ist naheliegend. Wie immerhin drei seriösen Zeitungen, u.a. die FAZ und NZZ schrieben, war dieses Konzept nachvollziehbar und richtig, auch wenn es nicht immer im gleichen Maße aufgegangen sein mag. Weiter haben diese Zeitungen und zwei weitere besonders betont, dass es eine hervorragende Personenregie wie immer bei Serebrennikov gab. Ein so eindringliches Portrait des Maquis Posa, der sonst häufig zur Schablone gerät, habe ich noch nicht gesehen, nicht einmal bei dem verehrten P. Konwitschny. Ein durch und durch emphatischer Mensch, der aus Menschenliebe handelt und schier verzweifelt, wie seine Pläne aus dem Ruder geraten (s. die Szene vor Beginn des Autodafé und währenddessen). Geradezu rührend aber auch von erschreckender Einfalt war im übrigen ein Kritikerkommentar, die Verbrennung von Menschen sei ja an Abscheulichkeit mit heutigen Opfern durch Politikgewalt nicht zu vergleichen. Allein die vielen Opfer in der Kleiderindustrie – vor allem Frauen und Kinder – sprechen eine ganz andere Sprache. Nur beispielhaft sei zur Personenregie gerade die Darstellung des Philipp – lustig ihn als Büromensch zu bezeichnen, Oligarch oder Elon Musk trifft es wohl eher, im Gegenüber mit dem historischen Philipp erwähnt: aus ihrer beider Perspektive kommunizieren beide in der großen Arie miteinander, wie überhaupt jede Menge Spiel der modernen Protagonisten mit den historischen Schatten stattfand. Aber das schimpfende Publikum hat offensichtlich nur die nackten Figuren mit Grusel betrachtet. Die historischen Kostüme hatten dabei nur erläuternde Funktion, die Präsentation der Machtausübung, der Unterdrückung, im privaten wie politischen Bereich zu dokumentieren. Das war auch daran zu erkennen, wie sich die Schatten z. Teil versuchten aus den Kleidern zu winden und außerdem der moderne Hofstaat teilweise alte Kostümteile anzog und wieder abwarf. Unsinnig sind im übrigen die Klagen über die Kostümkosten, zum einen, weil es nur um vier Kostüme ging, zum anderen hat Herr Roščić ziemlich überzeugend dargestellt, dass das Budget eingehalten wurde, schließlich waren die Bühnenbilder nicht gerade aufwendig, man ziehe zum Vergleich die Ausstattung der letzten Mailänder Don Carlo-Inszenierung: aufwendige historische Kostüme en masse, scheußliche Baukonstruktionen von Kirche etc.: da kann man wohl von einem völlig sinnentleerten historischen Kostümschinken sprechen. Zum Schluss noch ein Vergleich: die große Arie des Elisabeth im Vergleich Grigorian und Netrebko, erstere bietet im musikalischen wie darstellerischen Ausdruck ein unglaublich erschütterndes Portrait, während Netrebko zwar tolle Töne produziert, ansonsten aber eher eine nur jammernde Person, deren Unglück einen kaum berührt, zeigt. Erstere Darstellung ist auch auf die Zusammenarbeit mit dem Regisseur zurückzuführen zusammen mit dem eindringlichen Schlussbild der zerfallenden alten Kaiserjacke, alles Irdische…
Eugenie Sonntag
Danke für die Kontra-Position. Die Rangfolge in der Oper ist eindeutig – für mich zumindest: Musik (dazu zählen, genau in dieser Rangfolge: Orchester & Dirigent; Sänger; Kostüme, Bühnenbild & Regie). Die Aufgabe der modernen Regie ist es, zum Nachdenken anzuregen. Mit Mitteln, die es erlauben, den Fokus auf die Musik NIE komplett aus den Augen zu verlieren. In diesem Punkt hat die Regie versagt.
Jürgen Pathy
Zusatz: Dass Kirill Serebrennikov handwerklich einiges top löst, rückt in den Hintergrund. Ja. Mir ist aufgefallen, dass er Sänger meist glänzend positioniert. Redundante Drehbühnen vermeidet, viele Flächen einbaut, die als Reflexionsflächen für den Schall dienen. Ist aber alles nebensächlich, weil er mit seiner Idee den Rest erdrückt.
Jürgen Pathy
Danke, Frau Sonntag!!!