Wiener Philharmoniker © Lois Lammerhuber
Der Mythos Wiener Philharmoniker lebt. Wie unnahbar und mächtig ist dieses Orchester eigentlich, das seit fast 200 Jahren die Stadt Wien prägt – für manche wie ein Geheimbund. Ein Gespräch mit Michael Bladerer, CEO und Kontrabassist, gewährt seltene Einblicke.
von Jürgen Pathy
„Ja, Wiener Philharmoniker – das ist schon was ganz Besonderes“, höre ich die Stimme von Christian Thielemann imaginär im Ohr. Nachdem ich den Musikverein Wien betrete, um den CEO der Wiener Philharmoniker zu treffen. „Ja, sehr gerne!“, hatte Michael Bladerer geantwortet, nachdem ich ihn kontaktiert hatte. Auf unkonventionelle Art, denn das habe ich ebenso noch im Ohr: „Melden Sie sich per SMS.“
Das war beim Bühnentürl der Wiener Staatsoper. „Burgseite“ nennen es die Eingeweihten, dort, wo man zur Albertina und in den Burggarten blickt. Nach einer kurzen Konfrontation, überraschend und direkt – das ist mein Stil – fiel das Wort „Macht der Wiener Philharmoniker“. Daraufhin zog er die Visitenkarte. Aus „Macht“ wurde „Einflussbereich“. Drei Jahre später stehe ich im Musikverein.
Der Weg ins Orchester der Wiener Philharmoniker
16:50 Uhr. Zehn Minuten zu früh. Bladerer läuft mir im Stiegenhaus über den Weg. „Macht nichts, kommen Sie mit.“ Easy, leger, locker. Die erste Überraschung – seine Adjustierung: Bluejeans, Laufschuhe, Hemd und eine blaue Bomberjacke bedecken den schlanken Körper.
Ohne großes Protokoll sitze ich in der „Kanzlei“ der Wiener Philharmoniker. Ein großer Massivholztisch, Platz für sechs bis acht Personen, face to face an den Enden. Dass mich das verwundert, verwundert wiederum den gebürtigen Niederösterreicher, der seit 2017 als Geschäftsführer der Wiener Philharmoniker die Fäden zieht. Seit 1999 spielt er am Kontrabass in der Wiener Staatsoper; seit 2002 ist er im Verein der Wiener Philharmoniker.
Aufmerksame Blogleser wissen: Das berühmteste und für viele beste Orchester der Welt rekrutiert sich aus den Musikern und Musikerinnen der Wiener Staatsoper. Nach drei Jahren „Probezeit“ darf man um Aufnahme in den Verein ansuchen. Das sind die Wiener Philharmoniker seit ihrer Gründung im Jahre 1842.
Der Wiener Klang
Dass diese Vorlaufzeit einen triftigen Grund hat, stellt sich indirekt heraus. Bei der Frage nach dem Wiener Klang überrascht Bladerer wiederum. „Nein!“, wie aus der Pistole geschossen. Die Bezeichnung habe man nicht alleine für sich gepachtet. Immerhin spielen die Wiener Symphoniker ebenfalls auf den dafür notwendigen Instrumenten: die Wiener Oboe, die mit Darm bespannte Pauke oder das Wiener Horn, das gerne „kiekst“.
„Aber alleine das ist es nicht“, betont Michael Bladerer, was den weichen, runden Klang der Wiener Philharmoniker ausmache. Diese Besonderheit sei auch geprägt von einem anderen Faktor: „Von der Flexibilität“, die man sich als Opernorchester einfach aneignen müsse. „Ein Fortissimo ist nicht immer ein Fortissimo“ – und ich denke wieder an Christian Thielemann, der das fast mantraartig betet.
An rund 300 Tagen im Jahr spielt man in der Wiener Staatsoper. Das prägt ebenso wie „die Tradition“, holt Bladerer weit aus, während er seine Aussagen oft mit Anekdoten schmückt. Bei einer Grabentiefe von nur 1,80 Metern bleibt nichts anderes übrig, als viel auf die Sänger zu achten. Kaum ein anderer Orchestergraben ragt so hoch in den Saal. Ein Ohr habe man somit immer auf der Bühne. Diese Konstellation ist es, die den besonderen Klang der Wiener Philharmoniker ausmacht.
Zwischen Macht und Mythos
Über die Wiener Staatsoper redet Bladerer aber nicht gerne. Das spüre ich jedes Mal, wenn ich das Gespräch in Richtung Haus am Ring lenke. Zu sensibel, zu politisch – vor allem die Fragen in puncto Machtbefugnissen. Vom Zünglein an der Waage, weswegen Musikdirektor Philippe Jordan nach fünf Jahren gehen musste, will er nichts wissen. „Gerüchte sind eben nur Gerüchte.“
Philippe Jordan war von 2020 bis 2025 Musikdirektor der Staatsoper. Nach einer medialen Schlammschlacht mit Direktor Bogdan Roščić verließ der Schweizer das Haus nicht im Guten.
Musikdirektoren waren immer problematisch. Das könnte mit einer Eigenheit zu tun haben: Die Wiener Philharmoniker haben keinen Chefdirigenten – und: Die Entscheidung, wer bei sinfonischen Konzerten am Pult steht, trifft Bladerer theoretisch alleine. Der CEO hat diese Macht.
Als Diktator erweist er sich aber nicht. „Diese Entscheidung treffe ich immer gemeinsam mit Daniel Froschauer.“ Dass diese „sehr hohe Eigenverantwortung“ komplett im Gegensatz zur Wiener Staatsoper stünde, streitet Bladerer nicht ab. Dass man deswegen an der Wiener Staatsoper mitreden würde, zu dieser Aussage lässt er sich nicht hinreißen. Einfluss auf die Wahl der Dirigenten habe man an der Staatsoper keinen. „Formal entscheidet das der Direktor.“
Kein Mitsprachrecht also an der Wiener Staatsoper. Eine These, die diese Aussage etwas entkräften soll, sei ihm nicht bekannt. Als der mächtige Herbert von Karajan versucht hatte, den Graben um 10 Zentimeter zu senken, sei er bei den Philharmonikern auf Granit gestoßen. Herbert von Karajan war Direktor der Wiener Staatsoper von 1956 bis 1964.
Aber: Ioan Holender habe Jahrzehnte später vollbracht, was Karajan nicht gelang. „Weil die Schnecke der Kontrabässe die Sänger stören würden“, so die Begründung des am längsten amtierenden Staatsoperndirektors der Geschichte. Von 1992 bis 2010 war Ioan Holender Chef der Wiener Staatsoper. Einer mit viel Einfluss, wie das beweist.
Proben und Realität an der Wiener Staatsoper
Generell möchte Bladerer mit einigen Mythen der Wiener Staatsoper aufräumen, habe ich das Gefühl, nachdem ich das Gespräch regelmäßig in diese Richtung lenke. „Da Sie so ein großer Opernfan sind“, beginnt er seine Ausführungen. „Vor 37 Jahren habe ich dort als Substitut begonnen.“
Zwei Substitut-Stellen sind im Jahr zu besetzen – mit klassischem Vorspiel, wie bei allen anderen Musikern. Substitute, also Aushilfsmusiker, sind bei diesem Pensum notwendig.
Der Alltag ist gnadenlos: Staatsoper, Abokonzerte, Salzburg, Tourneen. Manchmal wirkt es wie ein Perpetuum mobile, ein Orchester ohne Pause. Da stößt man selbst mit 148 Musikern an seine Grenzen.
Dass man deswegen an der Oper kaum proben würde, blockt Bladerer sofort: „110 Orchesterproben sind pro Jahr vertraglich festgelegt.“ Dass die Hälfte auf Premieren falle, der Rest auf Wiederaufnahmen, zeigt aber deutlich: fürs Repertoire bleibt da kein Platz zum Proben.
Ein Punktesystem sorgt dafür, dass diese unbarmherzigen Dienstzeiten gedeckt sind. „Ein Punkt ist eine Viertelstunde spielen.“ Ein Buchführer pro Instrumentengruppe sorgt für Ordnung. Für das Neujahrskonzert stehen natürlich alle Schlange. Wie man das regelt, das Thema Frauen und Finanzierung in Teil 2.
Jürgen Pathy, 28. September 2025, für
klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de