Mit Tönen und Geräuschen jonglieren

Schönberg, „Pierrot lunaire“, Patricia Kopatchinskaja, Sprechgesang und Violine  Dresdner Musikfestspiele, 2. Juni 2024

Pierrot lunaire © Musikfestspiele.com

Patricia Kopatchinskaja, Sprechgesang und Violine
Meesun Hong Coleman, Violine und Viola
Thomas Kaufmann, Violoncello
Júlia Gállego, Flöte
Reto Bieri, Klarinette
Joonas Ahonen, Klavier

Arnold Schönberg: „Pierrot lunaire“ für eine Sprechstimme und fünf Instrumentalisten op. 21

sowie

Werke von Carl Philipp Emanuel Bach, Darius Milhaud, Luciano Berio und Patricia Kopatchinskaja

Dresdner Musikfestspiele, Deutsches Hygiene-Museum, 2. Juni 2024

von Pauline Lehmann

Im dunkelrot getünchten Saal des Deutschen Hygiene-Museums ist die Bühne über und über mit zerknüllten Zeitungen drapiert. An einem Notenständer hängen abgerissene Eintrittskarten und am Wandvorhang Kleider, die Patricia Kopatchinskaja für die Abendgarderobe ihrer folgenden Konzerte ausgibt. Über der Bühne baumeln Stühle und Hocker. An den Wänden wandert in fahlweißen Kreisen das Mondlicht. Kalkweiß geschminkt und in den überweiten weißen Kleidern des Pierrot sitzt die Geigerin am Bühnenrand.
Bereits bei der Suche nach dem Sitzplatz gerät man mitten hinein in Patricia Kopatchinskajas experimentelle Klangwelten. Die im Jahr 1977 in Chișinău, Moldau, geborene Künstlerin ist bekannt dafür, Konventionen aufzubrechen. Sie übernimmt die Rolle der Geigerin und Sprecherin und verbindet Arnold Schönbergs „Dreimal sieben Gedichte“ mit Werken von Carl Philipp Emanuel Bach, Darius Milhaud und Luciano Berio sowie mit ihren eigenen Werken und Arrangements.

Sie improvisiert mit Mimik und Gestik, lässt Klänge und Geräusche verschmelzen und lädt in ihrer Performance dazu ein, mit dem Gefühl und allen Sinnen hinzuhören. Wie in ihrem eigenen Stück „FlügelnWund“, wo die Solovioline in einen flirrenden Dialog mit acht Lautsprechern tritt, wird bei Patricia Kopatchinskaja das Musikmachen zum Kommunizieren, ja zum Erleben im Raum. Das von ihr arrangierte Presto in c-Moll vom Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel wirkt wunderbar vital und luftig in seiner getupften Spielweise.

In 21 Melodramen erzählt Arnold Schönberg von den grotesken, surrealen, wein- und mondtrunkenen Traumbildern der bleichen Commedia dell’arte-Figur des Pierrot. Die blasse, stumme Gestalt wurde im Jahr 1816 von Jean-Gaspard Deburau am Pariser Théâtre des Funambules aus der Taufe gehoben. Im Jahr 1884 veröffentlichte der belgische Symbolist Albert Giraud seinen Gedichtband „Pierrot lunaire“. Arnold Schönberg komponierte die Ensemblelieder im Jahr 1912 in Berlin für die Schauspielerin Albertine Zehme und griff dabei auf die deutsche Übersetzung der Gedichte des Bohemiens Otto Erich Hartleben zurück. Außerdem inspirierte er sich für seine Komposition bei Robert Schumanns „Carnaval“.

Die Sprechstimme – die der ersten Interpretin Albertine Zehme war in besonderem Maße dazu geeignet, dem „dichterischen Erlebnisse im Ton“ nachzuspüren – ist zwar in Tonhöhen notiert, die jedoch „durch Fallen oder Steigen sofort wieder zu verlassen“ sind, wie es in der Partitur heißt. Freiatonal, aber keinesfalls ohne traditionelle Anklänge gilt das Werk als epochemachend für die moderne Musik. Igor Strawinsky, dessen „Le sacre du printemps“ zur gleichen Zeit entstand, sind sie der „Solar plexus“ des 20. Jahrhunderts.

Bei Patricia Kopatchinskaja ist der hoch artifizielle und verschlüsselte Text klar verständlich. Es entsteht ein dichtes musiktheatrales Geflecht, in dem Pierrot naiv-süßlich und kindlich-unschuldig ist, aber auch in sadistische, kannibalistische und diabolische Tiefen blicken lässt, wenn er sich das Herz als „rote Hostie“ herausreißt oder in Cassanders Glatzkopf ein Loch bohrt, um „türkischen Tabak“ zu rauchen. Patricia Kopatchinskaja deklamiert in exaltierter Gebärde, faucht und säuselt. Im „Gebet an Pierrot“ zerfallen die Wortsilben, die vom verlernten Lachen erzählen, im Mund, erinnern aber auch an die Wort- und Silbenspiele der Dadaisten.

In einer Auswahl aus ihren „Ghiribizzi“ für Violine und Klarinette, die von den gleichnamigen Stücken Niccolò Paganinis inspiriert sind, flicht die Künstlerin das Stimmen ihrer Geige mit ein, sie knarzt mit dem Bogen und würgt Töne ab, quietscht, hustet, schreit, schnappatmet und lacht, bis sie endlich mit Reto Bieri in den Kehraus einstimmt. Nachdem Pierrot schließlich in seine Heimatstadt Bergamo zurückgefunden hat, lässt Patricia Kopatchinskaja den „alten Duft aus Märchenzeit“ in einem romantisch-sehnsüchtigen Bild wortwörtlich verhauchen.

Pauline Lehmann, 4. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dresdner Musikfestspiele, Lange Nacht des Cellos Kulturpalast Dresden, 26. Mai 2022

Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta im Mozarteum Salzburg Stiftung Mozarteum, 29. Juli 2023

8. Abonnementkonzert d, Patricia Kopatchinskaja, Violine, Gustavo Gimeno, Leitung München, Isarphilharmonie, 24. Juni 2023

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