Unfassbare Freude erfüllt den Raum, überbordernde Energie steigt nach oben, als ob sie direkt durch das Glasdach die schönste Stadt der Welt und das Universum bis in den letzten, schwer erreichbaren Winkel mit unbezwingbarer Lebensfreude und Hoffnung füllen möchte.
Der Virtuosität und dem unmittelbaren Charme beider Künstlerinnen kann man sich nicht entziehen! Ihre tief empfundene Freundschaft schafft Erdung und Verbundenheit, schafft Raum für Freiheit und Leben.
Elbphilharmonie, Hamburg, Großer Saal, 29. Oktober 2021
Patricia Kopatschinskaja, Violine
Sol Gabetta, Violoncello
Jean-Marie Leclair, Tabourin C-Dur
Jörg Widmann, Valse bavaroise, Toccatina all’inglese
Johan Sebastian Bach, Präludium G-Dur BWV 860
Francisco Coll, Rizoma
Domenico Scarlatti, Sonate G-Dur K305
Maurice Ravel, Sonate für Violine und Violoncello
Johann Sebastian Bach aus den zweistimmigen Inventionen
György Ligeti, Hommage a Hilding Rosenberg
Carl Philip Emanuel Bach, Presto c-moll Wq 114/3
Zoltán Kodály, Duo Violine und Violoncello op. 7
von Elżbieta Rydz
Die Vorfreude ist jedem Konzertbesucher trotz Masken anzusehen: Alle beeilen sich zielstrebig auf ihre Plätze, blättern im Programmheft, diskutieren mit dem Nachbarn, welche Komponisten oder Stücke des Abends sie kennen, welche nicht. Auf der Bühne des Großen Saals der Elphi: ein Podest mit schwarzem Hocker, zwei Notenständer.
Und da kommen sie schon: von links und rechts, beide mit den schönsten, emotionalsten Instrumenten der Welt bestückt, beide mit flachen Schuhen, an denen Glöckchen befestigt sind und mit denen sie das erste Stück des Abends einspielend verkünden. Sol Gabetta und Patricia Kopatschinskaja spielen Tambourin C-Dur von Jean-Marie Leclair. Unfassbare Freude erfüllt den Raum, überbordernde Energie steigt nach oben, als ob sie direkt durch das Glasdach die schönste Stadt der Welt und das Universum bis in den letzten, schwer erreichbaren Winkel mit unbezwingbarer Lebensfreude und Hoffnung füllen möchte.
Wenn ich persönlich meine menschliche Stimme in einem Instrument gespiegelt sehen möchte, kann ich mich oft schwer zwischen meiner Geige und dem Cello meines Mannes entscheiden. Die Ausdruckstärke, die Kraft, der Charakter – Solo gespielt überraschen sie mich immer wieder, die feinen Nuancen werden aber verstärkt und herausgearbeitet, wenn sie im Duett auftreten. So auch an diesem Abend.
Sol und Pat spinnen durch den Abend ein Strang feinster Klänge, Farben und Ausdrücke. Ihre wunderschöne Interpretation des Präludium G-Dur aus dem „Wohltemperierten Klavier, Band I“ von Johann Sebastian Bach versetzt mich in die Leipziger Thomaskirche. Es tut gut, die Augen zu schliessen, jeden einzelnen Ton auszukosten, zu hören, wie fließend die Übergänge, der Dialog der Instrumente ist, gleichsam einem geflüsterten, geheimnisvollen Gespräch zweier vertrauten Menschen.
Ja, die beiden sind sich vertraut. Wie sonst kann man den Ursprung der langjährigen Zusammenarbeit, die Gründung, das Fundament und den Grundstein, aus dem die Pracht der lebensbejahenden Interpretationen entsteht, nennen? Das Ergänzen, das Überlegen: Was wollte mir der Komponist sagen, wie sollte das Stück klingeln – dies ist der Richtungspfeil bei der Arbeit an den Stücken. Nicht von Ungefähr kommen die Roben diesen Abends daher: schwarz und weiß. Schwarz schluckt alles Licht, Weiß wirft alles Licht zurück – die „unbunten“ Farben stehen im Kontrast zu den „bunten“ Farben in der intensiven Farbpalette, die bei jedem Einzelnen im Verborgenen explodiert bei dem Stück Rizoma. Der spanische, 1985 in Valencia geborene Komponist und Maler Francisco Coll, hat bereits mehrere in Auftrag gegebene Stücke für Gabetta und Kopatschinskaja geschrieben. Rizoma ist an dem Tag fertig komponiert, als der Sohn von Sol Gabetta geboren wurde.
Ich folge der Anweisung von Pat und schliesse die Augen, um das Stück nicht in Tönen, sondern in Farben zu hören und zu denken: die Töne vermischen sich zu Zusammenstellungen, die ineinander übergeleitet werden, wobei immer eine Vorgängerfarbe bleibt: Blau-Lila, Lila-Schwarz, Schwarz-Grau, Grau-Grün, Grün-Gelb, Gelb-Orange, Gelb-Rot, Orange-Rot… eine Arbeitsfarbpalette entsteht in meinem Kopf, die warme sonnige Atmosphäre in der Künstlerwerkstatt an einem Sonntagnachmittag. Sicherheit, Wohlgefühl und Geborgenheit liegen in der Luft. Schwarz und Weiß sehe ich nicht, suche ich nicht.
Das Duo für Violine und Violoncello op. 7 von Zoltán Kodály entstand 1914 und wurde 1918 in Budapest uraufgeführt. Das Stück spiegelt die ungeschönte Instrumentengebrauchspraxis der Bauern wieder: improvisierendes Einspielen, tänzerische Elemente, schwärmerisches Fantasieren. Die lyrisch verhauchenden Geigensäufzer und das Cello Tremolo erschaffen mit Klang und Begleitfarbe lebende Figuren. „Neue Kompositionen kann man nicht einfach so vom Blatt lesen, es dauert, bis man die Sprache der Musik versteht“ – sagt Patricia Kopatschinskaja zum Publikum gewandt. „Manchmal haben wir es einfach: der Komponist lebt, man kann ihn fragen, ihm vorspielen, eine SMS schicken… den Domenico Scarlatti zum Beispiel, den können wir nicht mehr fragen.“
Besonders schön und prägend empfinde ich Maurice Ravels Sonate für Violine und Violoncello. Offenbar kannte Ravels Kodálys ungarisches Duo als er ein Stück zum Andenken an Claude Debussy schrieb. Das Werk erscheint sperrig mit seinen oft dissonanten Wirkungen, dabei ist es eines der poetischsten Werke Ravels. Ein Kleinod unendlicher melancholischer Anspielungen und Entdeckungen, gespickt mit Elementen aus Klassik, Jazz und Zigeunermusik.
Nach diesem wunderschön gestalteten Abend möchte ich zutiefst beindruckt nur noch sagen: der Virtuosität und dem unmittelbaren Charme beider Künstlerinnen kann man sich nicht entziehen! Ihre tief empfundene Freundschaft schafft Erdung und Verbundenheit, schafft Raum für Freiheit und Leben.
Elżbieta Rydz, 1. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sol Gabetta, Valery Gergiev, Münchner Philharmoniker, Philharmonie im Gasteig, 26. September 2020