Genialer Neumeier-Nussknacker: Ohne Weihnachtsbaum, aber mit vielen Geschenken

Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 11. Januar 2018
Peter I. Tschaikowsky, Der Nussknacker
Choreografie und Inszenierung, John Neumeier
Bühnenbild und Kostüme, Jürgen Rose
Symphoniker Hamburg
Musikalische Leitung, Garrett Keast
Marie, Florencia Chinellato
Louise, Carolina Agüero
Drosselmeier, Alexandre Riabko
Günther, Alexandr Trusch
Fritz, Konstantin Tselikov

von Sebastian Koik

Was für ein grandioser Ballett-Abend! Von keinem Ballett gibt es mehr Versionen als vom guten alten Nussknacker, der Jahr für Jahr rund um die Weihnachtszeit in zahlreichen Aufführungen weltweit getanzt wird. In Hamburg sind es sechs Vorstellungen, und alle sind sie ausverkauft.

Von den vielen Inszenierungen ist die Version des Hamburger Ballettintendanten und Choreographen John Neumeier vielleicht oder sogar wahrscheinlich die überzeugendste, bezauberndste, schönste!

Normalerweise spielt der Nussknacker in einem weihnachtlichen Ambiente – nicht bei John Neumeier. In den klassischen Versionen wie der des Choreographen Wassili Wainonen aus dem Jahre 1934, die Ende Dezember 2017 vom St. Petersburger Mariinsky-Ballett in Baden-Baden aufgeführt wurde, geht ein großes Staunen durch das Publikum, als sich im ersten Akt der Vorhang öffnet und den Blick auf eine weihnachtliche Gesellschaft rund um einen von Geschenken umringten Christbaum freigibt.

In Neumeiers Nussknacker gibt es kein Weihnachten, keinen Mäusekönig mit Mäuse-Armee, keine Zinnsoldaten und auch keine Schlacht zwischen diesen beiden märchenhaften Lagern.

Bei Neumeier ist der Nussknacker radikal entstaubt – und kein bisschen weniger zauberhaft und festlich als die traditionellen Versionen! Ganz im Gegenteil.

Die ganz großen visuell begründeten „Ahs“ und „Ohs“ gibt es bei Neumeier etwas später, dafür umso fulminanter und begeisternder. Und zwar als der sich öffnende Vorhang das zweite Bild des Abends offenbart: Einen Ballett-Saal, einen Übungsraum mit Ballettstange und übenden Tänzerinnen! Das alles in viel Weiß und Licht getaucht.

Es könnte auch der Himmel sein. Und es ist der Himmel für das junge Mädchen Marie. Marie feiert hier nicht Weihnachten, sondern ihren zwölften Geburtstag. Für Neumeier ist das ein einmaliger Moment, besonderer als Weihnachten. Ein kindliches Mädchen beginnt, sich in eine junge Frau zu verwandeln.

Marie bekommt zu Beginn des Stückes neben dem berühmten Nussknacker auch ein paar Ballettschuhe geschenkt. Und zwar vom Ballettmeister Drosselmeier, der an die historische Figur der Choreographen-Legende Marius Petipa erinnert, dem Vater des klassischen Balletts.

Maries Träume führen sie im zweiten Bild in das Ballettstudio. Der Ballettmeister Drosselmeier führt sie in die Welt des Tanzes ein. Er lehrt sie an vielen von anderen Tänzerinnen vorgeführten Beispielen den Tanz. Eigentlich soll Marie zusehend lernen, doch sie kann nicht anders als immer wieder voller Begeisterung aufzuspringen und mit den anderen geübteren Elevinnen mitzutanzen. Ein schöner Running-Gag ist der erhobene Zeigefinger des Ballettmeisters gegenüber Marie, immer wieder tippt er ihr beim ausgelassenen Tanzen auf die Schulter, verweist sie von der Bühne, schickt sie zu ihrem Zuschauerplatz an der Seite. Nach und nach wird sie mehr und mehr integriert, darf immer häufiger, immer mehr.

Während in den traditionellen Versionen des Nussknackers im ersten Akt so gut wie gar nicht getanzt wird, geschieht dies hier auf ganz wunderbare Weise schon von Anfang an. Doch der zweite Akt nach der Pause ist auch hier ein einziges großes Tanzfest. Allerdings nicht in einer Süßigkeitenwelt in Schloss Zuckerburg, sondern ungemein schöner: Auf der Ballett-Bühne!

Und Marie darf mittanzen! Das geliebte Tanzfest des guten, alten Nussknackers bleibt. Doch der Rest ist bei Neumeier so viel schöner und bezaubernder.

John Neumeier ist ein wunderbarer Choreograph! Und ebenso wunderbar sind seine Tänzer!

Alle tanzen sie stark, und das ist das Besondere an dieser Kompanie: Sie sind alle auch wunderbare Darsteller!

Der Ukrainer Alexandre Riabko, bereits seit 1996 im Haus, ist neben Carsten Jung das Gesicht dieser einmaligen Truppe und der wahrscheinlich darstellerisch beste Tänzer der Welt! Wer ihn einmal als Jago in Neumeiers Othello erlebt hat, wird diesen Tänzer niemals vergessen können.

Er präsentiert sich hier wie immer als exzellenter Tänzer und Darsteller. Riabko spielt und tanzt an diesem Abend den exzentrischen Ballettmeister Drosselmeier, und man kann sich keine bessere Besetzung als ihn vorstellen!!! Bei ihm liegt Bedeutung in der kleinsten Nuance der Mimik und Gestik. Man sieht jeder seiner Auftritte an, was er einmal auch ganz ausdrücklich sagte: „Gleichgültig, in welcher Partie, jede Bewegung bedeutet etwas für mich – muss etwas bedeuten.“

Man kann Riabko als die Ideal-Verkörperung der künstlerischen Ballett-Idee Neumeiers sehen: Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit der Figuren, der Wert des Darstellerischen, die Wichtigkeit der Nuance, Seele, Tiefe.

Alexandr Trusch tanzt und spielt den feschen Kadetten Günther. Er wird Maries erster Schwarm, mit dem sie dann am Ende auch Pas de deux tanzen darf. Dieses erste Verliebtsein gehört zu Maries Wandlung, zu ihren ersten Schritten in die Erwachsenenwelt hinein. Und dieser wirklich sehr gut aussehende Trusch ist auch ein Typ zum Verlieben! Optisch und vom tänzerischen Können. Auch er ist eine wundervolle Besetzung!

Florencia Chinellato verkörpert die Marie ebenso stark wie der große Alexandre Riabko den Drosselmeier. Herrlich, wie sie die Wandlung des Mädchens Marie im ersten Bild zur sich entwickelnden und in der Welt ausprobierenden jugendlichen Marie darstellt. Wundervoll, wie sie die spannungsreiche und bezaubernde Balance zwischen einerseits Unbeholfenheit bei ihren ersten Schritten in der neuen und fremden Ballett-Welt und andererseits scheinbar angeborener Grazie ausdrückt: ihre Wandlung, ihr wachsendes Selbstbewusstsein.

Die Leidenschaft der Tänzerin und der Figur strahlen in den Saal hinein. Sie spielt und zeigt die Begeisterung des Mädchens, das ihren Traum leben darf.

Carolina Agüero spielt die Louise, Maries ältere Schwester, die bereits Ballerina ist. Eine wunderbare Tänzerin. In der fünften und kleinsten Hauptrolle begeistert Konstantin Tselikov als Maries Bruder Fritz mit aberwitzigen und hochpräzisen Drehsprüngen.

Das Corps de Ballet begeistert vor allem beim großen Tanzfest im zweiten Akt mit einer großartigen Darbietung nach der anderen.

Die sechs Nussknacker-Vorstellungen werden jeweils dreimal vom Hausorchester, dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, und dreimal von den wunderbaren Symphonikern Hamburg musikalisch begleitet.

An diesem Abend sind die Symphoniker dran. Und die Musik wird zu einem weiteren großen Highlight des Abends! Angeleitet vom sich mit einer perfekten Leistung präsentierenden Garrett Keast liefern die Symphoniker Hamburg eine gnadenlos gute Vorstellung! Das Orchester spielt spritzig, frisch, äußerst klangschön. Tschaikowskys großartige Komposition wird zum Strahlen gebracht. Da gibt es selbst für anspruchsvollste Hörer nichts zu mäkeln! Das macht auch musikalisch große Freude!

Der in Berlin lebende amerikanische Dirigent Garrett Keast dirigierte unter anderem auch schon sensationell gut den Othello in Hamburg, das musikalisch vielleicht beeindruckendste Neumeier-Stück. Schon im Januar ist er wieder mit den Hausherren des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg beim Ballett Don Quixote am Pult zu erleben. Möge er darüber hinaus noch oft in Hamburg dirigieren!

Musikalisch, tänzerisch, choreographisch und inszenatorisch ist dieser Nussknacker ein Fest! John Neumeier und das Hamburg Ballett lassen auch bei Weihnachtsmuffeln Vorfreude auf die nächste Weihnachtszeit aufkommen. Ohne Weihnachtsbaum, aber mit vielen Geschenken. Und eines der allergrößten Geschenke, über das sich Hamburg jeden Tag freuen kann, ist ihr Ballettchef John Neumeier.

Sebastian Koik, 13. Januar 2018,
für klassik-begeistert.de

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