Zwei Märchen rahmen ein Rätsel – Das 9. Symphoniekonzert in Lübeck beschließt die Saison

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck, Rasmus Baumann, Dirigent, Nils Mönkemeyer, Viola   Lübeck, Musik- und Kongresshalle, 1. Juli 2024

Nils Mönkemeyer © Irène Zandel

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Rasmus Baumann, Dirigent
Nils Mönkemeyer, Viola

Antonín Dvořák, Die Mittagshexe. Symphonische Dichtung für Orchester op. 108

Paul Hindemith, Der Schwanendreher. Konzert nach Volksliedern in drei Sätzen für Viola und Kammerorchester

Alexander von Zemlinsky, Die Seejungfrau. Phantasie in drei Sätzen für Orchester


Lübeck, Musik- und Kongresshalle,
1. Juli 2024


von Dr. Andreas Ströbl

Märchenhaft und leicht skurril – ein ausgesprochen reizvolles, schillerndes Programm hatten die Lübecker zum Saisonabschluss zusammengestellt, der mit dem 9. Symphoniekonzert am 1. Juli in der Musik- und Kongresshalle der Hansestadt enthusiastisch gefeiert wurde.

DvořáksMittagshexe“ ist ein Märchen, das eigentlich für Erwachsene bestimmt ist, weil hier erzählt wird, wie unbedachte Erziehungsmaßnahmen zu einem unglücklichen Ziel führen können. Schließlich droht hier eine vom unruhigen Söhnchen genervte Mutter, dass die Mittagshexe es holen käme, wenn es nicht endlich Ruhe gäbe. Die Hexe kommt dann auch tatsächlich, reißt das Kind an sich, aber die Mutter kann, bevor sie in Ohnmacht fällt, die Böse vertreiben. Der später hinzukommende Vater vermag seine Frau zwar wieder zu erwecken, aber das Kind ist unter ihr erstickt.

Die tragische Geschichte erzählt Dvořák tonwörtlich, weil er wirklich alles in Noten gießt, was die Balladenvorlage von Karl Jaromír Erben vorgibt – das Kinderspiel, die drohende Mutter, den unheimlichen Auftritt der Hexe und die existentielle Gefahr, die von ihr ausgeht. Wirklich finster ist die Musik allerdings nie, der Märchenton beherrscht das wundervolle Stück.

Märchenhaft ist auch die Wiedergabe durch das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter dem Gastdirigat von Rasmus Baumann, der den makellos spielenden Klangkörper mit Eleganz, Freundlichkeit und Präzision leitet. Der Mann ist ein echter Gentleman, der jegliche Exaltiertheit vermeidet, aber entschieden, pointiert und oft lächelnd-begeisternd seine Einsätze gibt.

Was genau macht eigentlich ein Schwanendreher? In Rudi Pallas „Die Welt der verschwundenen Berufe“ wird man ihn nicht finden; es ist damit, anders als im Programmheft beschrieben, wohl ein Küchenjunge gemeint, der die zu festlichen Anlässen gebratenen Schwäne über dem Feuer zu drehen hatte, wenn es den Herrschenden nach besonderem Braten gelüstete. Sang der Schwan, bevor er geröstet wurde?

Ein Spielmann tut das zumindest, wenn er vor den hohen Herren aufspielt, und er dreht zuweilen die Leier zu seinem Sang. Darum geht es in dem dreisätzigen, 1935 entstandenen Konzert, das alte deutsche Volkslieder zitiert, aber eben nicht in völkischer, sondern ironischer, vielschichtiger Weise.

Nils Mönkemeyer © Andreas Ströbl

So versteckt sich in diesem Konzert für Viola und Kammerorchester möglicherweise eine Kritik an den Nazis, vor denen Hindemith 1938 mit seiner jüdischen Frau floh – Goebbels hatte ihn als „atonalen Geräuschemacher“ bezeichnet. Atonal ist Hindemiths Musik keineswegs, aber was wusste schon der klumpfüßige Schreihals.

Das Ganze ist typischer Hindemith, indem das Spiel mit Dissonanzen und kratzigen Strichen immer wieder abgelöst wird durch geöffnete Fenster, durch die strahlendes Sonnenlicht scheint, triumphal in weite Gefilde weisend. Es erinnert manchmal an frohe Farbtupfen in einem expressionistischen Holzschnitt, in dem der Blick ständig von Hell nach Dunkel wandert – und zurück.

Nils Mönkemeyer © Andreas Ströbl

Nils Mönkemeyer beherrscht den höllisch schweren Part virtuos, ob im Flageolett, das wie ein verfilzter Wollpullover fast unangenehm kratzt, oder mit zartem Strich in den lyrisch-sanften Passagen. Es wird auch klar, dass Hindemith als Könner auf der Bratsche wirklich wusste, was man aus dem Instrument herausholen kann, in Auslotung auch extremer Ausdrucksmöglichkeiten. Kein Wunder also, dass er in der Orchesterbesetzung auf die hohen Streicher verzichtete – endlich darf die Viola glänzen, jenseits der schon vor Jahrzehnten langweilig gewordenen Bratschenwitze.

Die Interaktion von Solist, Dirigent und Orchester ist ebenso organisch-selbstverständlich wie harmonisch; allen Mitwirkenden gelingt ein Miteinander, das diese stets augenzwinkernde Musik mit all den humorigen, leichtfüßigen, nachdenklichen und leuchtenden Aspekten zum fülligen Klingen bringt.

Gerade im Fugato zeigt Hindemith, wie man aus einem einfachen Volkslied die ganz hohe Kunst macht und das lässt Mönkemeyer mit expressivem Schwung des Spiels, aber stets gemessen in der Haltung aufs Eindrucksvollste erleben.

Das Publikum dankt es dem Weltklasse-Musiker mit enthusiastischem Beifall, den er wiederum mit zwei Bach-Zugaben (1. Suite in G-Dur) entlohnt.

Rasmus Baumann und Orchester © Andreas Ströbl

Wie im ersten Stück, gibt es auch in Zemlinskys „Seejungfrau“ eine gnadenlose Hexe, die dem sehnsüchtigen, in einen Prinzen verliebten Meermädchen zwar die menschliche Gestalt und damit die Sterblichkeit verleiht, aber auch Stimme und Unbekümmertheit nimmt.

Es ist nicht bekannt, dass Alexander von Zemlinsky Tauchkurse besucht hat – wie schaffte es der Mann nur, das von der Sonne durch die blaugrünen Wogen flimmernd-strahlende Licht in Töne zu gießen, das man doch nur von unten, aus traulicher Tiefe mit dem sehnenden Blick nach dem goldenen Gestirn hin wahrnehmen kann?

Baumann und die Lübecker zaubern dieses liebevolle Jugendstilgemälde mit aller Schwermut, Feierlichkeit, Dramatik und tiefstem Schmerz, aber bleiben doch dabei stets in einem sahnig-schwelgerischem Wiener Eleganz-Klangraum.

Man denkt an die „Mittagshexe“ zurück und assoziiert auch die anderen Größen des böhmisch-mährischen Kulturraumes im weitesten Sinne, wie Smetana und Mahler, denn in dieser grüngoldenen Klangwelt mit all den Naturlauten schimmert doch ein gemeinsamer musikalischer Dialekt durch, jenseits der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Neben wirklich langanhaltendem Applaus gibt es an diesem Abend Blumen nicht nur für den Solisten und den Dirigenten, sondern auch für die Hornistin Karyn Dobbs, die nach 40 Jahren Dienst in diesem Orchester ihren Abschied nimmt.

Nun darf der Sommer kommen!

Dr. Andreas Ströbl, 2. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 und Andreas Ströbl (Schlussapplaus)

Auf den Punkt 19: Mottoparty in der MUK klassik-begeistert.de, 30. Juni 2024

Stefan Vladar, Dirigent und Klavier Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck, Mozart und Bruckner MUK, Lübeck, 5. Mai 2024

Auf den Punkt 6: Laeiszhalle, Symphoniker Hamburg und MUK, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck, 5. Mai 2024

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