Foto: Michael Pöhn (c)
Eine Annäherung an das Phänomen Plácido Domingo in seiner baritonalen Spätphase
Von Manfred A. Schmid (onlinemerker.com)
Das Folgende ist keine Rezension der zweiten Aufführung der laufenden Aufführungsserie von Giuseppe Verdis La Traviata am 1. Juni 2018. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, die magische Wirkung des Auftritts von Plácido Domingo auf das Publikum, wie sie in dieser Vorstellung erneut zu erleben war, zu begreifen und nachvollziehen zu können.
Ein 77-jähriger Mann betritt die Bühne. Noch bevor er den ersten Ton singt, ertönt begeisterter Begrüßungsapplaus. Dabei ahnt wohl jeder: Die Zeiten des Jahrhunderttenors Domingo sind längst vorbei; seit einiger Jahren tritt er nur mehr in Baritonrollen auf. Zunächst recht erfolgreich, etwa in der Titelpartie von Verdis Simon Boccanegra. Inzwischen aber ist aus seiner Stimme, wie man sich gleich überzeugen wird können, kaum mehr als nur ein schwacher Schatten ihrer einstigen Strahlkraft geworden. Und dennoch: Mag die musikalische Performance noch so dürftig sein, der Applaus ist ihm sicher.
Der unbarmherzige Kritiker, der jeden gesungen Ton akribisch verfolgt, vergleichbare Leistungen aus seinem Gedächtnis abruft und ein daraus resultierendes eklatantes Missverhältnis konstatieren muss, schüttelt verständnislos den Kopf und ärgert sich über diese, in seinen Augen ignorante Reaktion. Das Publikum lasse sich eben von Namen blenden und habe wieder einmal natürlich überhaupt kein Tau davon, was hier tatsächlich geboten wird.
Doch halt: Man sieht nur mit dem Herzen gut, heißt es bei Saint-Exupéry. Könnte das zuweilen nicht auch für das Hören gelten? Entgehen dem Kritiker hier nicht wesentliche Zwischentöne, die fast 90 Prozent im Publikum, das glückselig klatscht, offenbar doch wahrnimmt? Ist es nicht so, dass hinter der brüchig und grau gewordenen Stimme noch immer das unverwechselbare Timbre einer Stimme, einem in Jahrzehnten vertraut geworden, durchschimmert und an die großen Momente einer Karriere erinnert, die man miterlebt hat? Gilt der Begrüßungsapplaus also nicht so sehr dem zu Erwartenden, sondern dem bereits so oft so wonnevoll Erlebten? Jedenfalls liegt unendliche Dankbarkeit darin, und das Wiener Publikum ist bekannt für seine immer wieder bewiesene Dankbarkeit gegenüber seinen geliebten und vertrauten Sängerinnen und Sängern.
Schließlich spielt wohl auch die Freude darüber eine Rolle, dass hier ein Sänger, der auf den 80-er zugeht, noch immer mit sichtbarer Freude seinem Beruf nachgeht und diese Freude auf magische Weise auf sein treues Publikum überspringen lässt. Domingo singt noch! Also ist die Welt, wie wir sie kennen, noch immer so, wie sie war und möglichst lange noch bleiben soll. Das übliche Berufsleben erzählt bekanntlich ganz andere Geschichten.
Die hie und da lautstark geäußerten Bedenken mancher Kritiker, dass Domingo durch derlei Auftritte dabei sei, seinen Ruf nachhaltig zu beschädigen, sind lächerlich. Dieser Ausnahmekünstler, der wohl zu den vermutlich besten Sänger-Darstellern der letzten Jahrzehnte zählt, hat seinen dauerhaften Platz im Himmel der Tenöre, so sicher wie kaum ein anderer.
Was bleiben wird, ist Domingo als Otello, Domingo als Alfredo, Domingo als Lohengrin. Jener Domingo also, der in mehr als 148 verschiedenen Rollen aufgetreten ist, mehr als jeder andere Tenor, der in den Annalen der Musik verzeichnet ist.
Und einige, vielleicht gar nicht so wenige, werden sich einst – mit Wehmut und mit der einen oder anderen Träne im Auge sowie mit Dankbarkeit im Herzen – wohl auch gern an jenen Domingo erinnern, den man im Juni 2018 nochmals als Vater Germont auf der Bühne der Staatsoper erleben konnte.
Zum Schluss sei noch daran erinnert, dass die Oper nicht nur für den elitären Kreis der Eingeweihten da ist, die mit Partitur und Taschenlampe in der Hand den Ablauf akribisch verfolgen und argwöhnisch darüber wachen, ob ja wohl alle Angaben 1:1 übernommen werden. Die Oper gehört ebenso dem breiten Publikum, das einfach seine Freude daran hat. Dessen Begeisterung über Plácido Domingo in seiner baritonalen Nachspielphase als Dummheit und banale Anspruchslosigkeit abzutun, ist eine Position, die dem Wunder Oper nicht annähernd gerecht wird. Selbstverständlich soll der geübte Kritiker seinen geübten Verstand nicht bei der Kassa abgeben. Aber manchmal geziemt es sich eben, sein scharfes Gehör um mindestens ein weiteres Sinnes-Organ zu erweitern: Man hört eben nur mit dem Herzen gut!
Manfred A. Schmid
P.S.: Dieser FEUILLETON-Beitrag von Manfred Schmid beschäftigt sich nicht nur mit dem Phänomen Domingo, sondern stellt offensichtlich auch eine Antwort auf eine im OnlineMERKER erschienene Rezension der letzten Traviata vom 29.5. eines nicht zum Kreis unserer Kollegen zählenden Kritikers dar. Dieser hat in seinem Elaborat am Ende den Satz gestellt: „Viele der Anwesenden spendeten großzügig Applaus; vermutlich in Unkenntnis der Partitur und in der Armut ihrer Bedürfnisse“.
Unabhängig davon, ob in den Ohren eines solchen Kritikers jeglicher Applaus dem Dargebotenen unwürdig sei oder nicht (das steht ihm selbstverständlich zu), hat er sich in seiner Funktion weder dem Publikum noch seinen Lesern gegenüber die Frechheit zu erlauben, diese als in geistiger Armut befindliche zu bezeichnen. Eine derartige Präpotenz Applaudierenden gegenüber ist mit aller Schärfe zurückzuweisen! Goethe hatte ja doch nicht ganz unrecht!
Peter Skorepa – OnlineMERKER
3. Juni 2018