© Lukas Beck / Wiener Konzerthaus
Wenn der überirdisch schöne Schlusschoral der Passion verklungen ist, herrscht zunächst ergriffene Stille. Dann bricht sich die Begeisterung des Publikums Bahn, verdienter Lohn für einen außerordentlichen Abend mit wunderbarer Musik von Bach und zweien seiner Vorgänger.
Chor und Orchester des Ensembles Pygmalion, Solistinnen und Solisten, Raphaël Pichon am Pult.
Johann Sebastian Bach
Johannespassion BWV 245
Pygmalion
Julian Prégardien Evangelist
Huw Montague Rendall Christus
Christian Immler Pilatus
Ying Fang Sopran
Lucile Richardot Alt
Laurence Kilsby Tenor
Raphaël Pichon Dirigent
Wiener Konzerthaus, 10. April 2025
von Dr. Rudi Frühwirth
Wenn Raphaël Pichon am Pult vor dem Ensemble Pygmalion steht, wird nicht einfach eine der Versionen von Bachs Johannespassion gespielt und gesungen. Nein, Pichon bereitet uns ein theatralisches Erlebnis ersten Ranges. Er macht aus der Passion nicht eine Oper, das hieße dem Werk doch Gewalt anzutun. Vielmehr wird die ungeheure Dynamik, die in der Passion steckt, nicht nur durch die Musik hörbar gemacht, sondern durch die Bewegungen von Chor und Solisten auch sichtbar. Das Resultat möchte ich in Anlehnung an Wagner einfach als Handlung bezeichnen, ein die Gattung der Passion transzendierendes Gesamtkunstwerk.
Zu Beginn sitzt das Orchester auf dem Podium oder vielmehr auf der Bühne, das Licht im Saal erlischt, die Instrumente werden gestimmt. Der Chor und die Solisten wandern hinter das Orchester, schließlich kommt der Dirigent. Eine Frauenstimme erklingt vom Balkon, der Chor antwortet a cappella – Pichon hat vor die Passion als Einstimmung das Lied O Traurigkeit! O Herzeleid! gesetzt, eine anonyme Melodie aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert. Kaum ist die letzte Strophe verklungen, beginnen mit voller Wucht Chor und Orchester: Herr, unser Herrscher schallt eindringlich durch den Saal. Schon im einleitenden Chor fordert Pichon eine enorme dynamische Bandbreite, ein Ansatz, der sich durch den ganzen Abend ziehen wird, in den Chören ebenso wie in den Arien und den Chorälen.

Langsam löst sich Julian Prégardien aus dem Chor und kommt nach vorne. Er singt frei, ohne Noten, und verstärkt so den theatralischen Eindruck. Er ist wohl einer der besten seines Fachs, beherrscht den Part oder eigentlich die Rolle des Evangelisten stimmlich und im dramatischen Gestus perfekt. Auf der anderen Seit der Bühne tritt Huw Montague Rendall als Christus hervor. Sein Bariton ist des stärksten Ausbruchs wie auch der zartesten Regungen fähig. Seine letzten Worte, Es ist vollbracht, lassen uns erschütternd die Todesqualen des Gekreuzigten ahnen.

Die erste Arie ist dem Alt zugewiesen. Lucile Richardot, die bisher im Chor mitgesungen hat, ist im Programm als Contralto, also Kontra-Alt, ausgewiesen. Nicht zu Unrecht, denn ihre Stimme ist in der Tat in der tiefen Lage außerordentlich kraftvoll, sie hat aber auch in der Höhe keinerlei Schwierigkeiten. Trotz sehr zurückhaltendem Vibrato ist ihr Gesangsstil ungemein expressiv, selbst im pianissimo. Ihre Sopranpartnerin ist Ying Fang, engelgleich in der Erscheinung wie auch im Gesang. Besonders beeindruckend gestaltet sie ihre Arie Zerfließe, mein Herz im zweiten Teil. Bei den Schlussworten Dein Jesus ist tot! zerbricht ihre Stimme buchstäblich in höchstem Schmerz.

Nachdem Petrus Jesus dreimal verleugnet hat, berichtet der Evangelist: Da gedachte Petrus der Worte Jesu und ging hinaus und weinete bitterlich. Die schier unglaublichen chromatischen Melismen, mit denen Bach diese Worte unterlegt hat, bringt Prégardien zu schmerzlich schneidender Wirkung. Danach greift zum ersten Mal der Tenor in die Handlung ein, mit der Arie Ach, mein Sinn. Das leicht metallische Timbre von Laurence Kilsby steht in starkem Kontrast zu Prégardiens Leichtigkeit und Geschmeidigkeit. Trotz sauberer Intonation und schönem Legato hat er bei mir den am wenigsten intensiven Eindruck unter allen Solostimmen hinterlassen.
In der ersten Fassung der Johannespassion im Jahr 1724 beendete der folgende Choral Petrus, der nicht denkt zurück den ersten Teil der Passion. Pichon fügte an dieser Stelle zwei Sätze aus der Kantate BWV 159 ein: zuerst ein Duett von Bass und Alt, in dem die beiden nach Jerusalem hinaufgehen, schön illustriert durch aufsteigende Skalen in den tiefen Streichern, und dann die Bassarie Es ist vollbracht. Ganz schlüssig scheint mir die Auswahl nicht, denn bis zum Tod Jesu im zweiten Teil ist noch ein weiter Weg zurückzulegen. An das Ende des ersten Teils hat Pichon an diesem Abend den Chor Christe, du Lamm Gottes gesetzt, der ursprünglich die Kantate BWV 23 abschloss, von Bach aber in der Zweitversion der Passion im Jahre 1725 als Schluss des ersten Teils verwendet wurde.
Im zweiten Teil wird dann Pilatus ein wichtiger Teil der Handlung. Christian Immler ist eine Luxusbesetzung der Partie, die ja nur Rezitative zu singen hat. Sozusagen als Belohnung darf er aber die Arie Eilt, ihr angefochtnen Seelen singen, deren anspruchsvolle Koloraturen er brillant bewältigt.
Die Chöre, in denen die Juden im zweiten Teil auf ihren Gesetzen bestehen und Jesu Kreuzigung verlangen, gehören zweifellos zu den musikalischen Höhepunkten der Passion. Fugenmäßig angelegt, verlangen sie höchst präzise Koordination der Stimmen, die die Sängerinnen und Sänger von Pygmalion unter der exakten Führung des Dirigenten beeindruckend liefern. Auch in den zahlreichen Chorälen zeigen sie ihr enormes Können. Im Choral Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, den Pichon durchgehend im pianissimo singen lässt, schenken sie uns ein vollendet ausgewogenes, berückend schönes Klangbild. Die große Bandbreite der Dynamik, die den ganzen Abend durchzieht, zeigt sich unter anderem auch im Choral Wer hat Dich so geschlagen – die erste Strophe tönt hart angesetzt fortissimo, die zweite beginnt piano und steigert sich dann zum Ende wieder auf forte. Nach dem Tod Jesu, herzzerreißend geschildert vom Evangelisten, hat Pichon die Motette Ecce quomodo moritur iustus des Renaissancekomponisten Jacobus Gallus eingeschoben. Wieder zeigt der Chor, diesmal a cappella, perfekte Intonation and beispielhafte Klarheit.
Das Orchester von Pygmalion ist mäßig groß besetzt, mit sechzehn Streichern, zwei Flöten, zwei Oboen, Fagott und Kontrafagott sowie Cembalo, Orgel und Theorbe. Der Klang des Orchesters ist etwas weniger transparent und auch sonst deutlich verschieden vom Klang der von mir hochgeschätzten Nederlandse Bachvereniging, obwohl beide Ensembles auf historischen Instrumenten spielen. Das ist aber durchaus nicht als Kritik gemeint; im Verein mit dem Chor entsteht bei Pygmalion ein charakteristisches Klangbild, das fesselnde Expressivität mit technischer Perfektion vereint. Das trifft auch ohne Einschränkung auf die Solostimmen der Holzbläser zu, die besonders in den Arien höchst wichtige Rollen als obligate Begleitung der Gesangsstimmen spielen. Als zwei Beispiele nenne ich die Flöten in der wunderbar gesungenen Sopranarie Ich folge Dir gleichfalls mit freudigen Schritten und die Oboen in der Bassarie Es ist vollbracht aus BWV 159. Lediglich in der Arie des Tenors im zweiten Teil war der Saal wohl zu groß für den zarten Ton der Soloviolione.

© Lukas Beck / Wiener Konzerthaus
Nach dem großartigen Schlusschor Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine zerstreut sich der Chor über die ganze Breite der Bühne und lässt uns den Choral hören, den Bach als tröstlichen, überirdisch schönen Ausklang an das Ende der Passion gesetzt hat: Ach Herr, lass dein lieb’ Engelein. Nach dem Choral herrschen noch lange ergriffene Stille; dann bricht ein Beifallsorkan los, das Publikum macht seine Begeisterung mit lauten Bravorufen kund, Dirigent und Solisten werden euphorisch gefeiert, alle Orchestergruppen werden mit stürmischem Applaus bedacht: verdienter Lohn für einen ganz außerordentlichen, wundervollen Abend.
Dr. Rudi Frühwirth, 11. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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