Yannick Nézet-Séguin (ML); Danil Trifonov und The Phildelphia Orchestra © Andrea Kremper
Zum ersten Mal überhaupt gastiert das Philadelphia Orchestra in Baden-Baden. Unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin gibt es von Freitag bis Sonntag gleich drei Konzerte ausschließlich mit Musik von Sergei Rachmaninow. In zweien sitzt Daniil Trifonov am Flügel. Der erste Abend ist nichts weniger als ein Ereignis.
Sergej Rachmaninow (1873-1943) – Klavierkonzert Nr. 4 g-Moll op. 40; Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27
Daniil Trifonov, Klavier
The Philadelphia Orchestra
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
Baden-Baden, Festspielhaus, 3. November 2023
von Dr. Brian Cooper, Bonn
Zum ersten Mal überhaupt kommt das Philadelphia Orchestra ans Festspielhaus Baden-Baden. Der gute Draht des Intendanten zu Yannick Nézet-Séguin – nach allem, was nach außen dringt, darf man von Freundschaft ausgehen, zumindest schätzt man sich – glüht nach wie vor weiter. Wie zu besten Dortmunder Zeiten kommt Yannick in regelmäßigen Abständen in die von Benedikt Stampa mit sicherer Hand geführten Häuser.
Für uns, die wir exquisite Sinfonik schätzen, ist das ein Privileg. Ein paar hundert Kilometer reisen zu dürfen, statt nach Philadelphia, um Vorzügliches zu erleben; dann auch noch gesund zu bleiben und ein im doppelten Wortsinn großes Orchester in Topform zu erleben – und das in Zeiten, da gefühlt jeder Zweite wieder COVID bekommt oder schwer vergrippt ist.
Das dreitägige Rachmaninow-Festival kommt im November etwas überraschend und tröstet vielleicht ein wenig hinweg über das Programm des Yannick-Festivals „La capitale d’été“, das 2024 nicht ganz so aufregend ausfällt wie in den ersten beiden Ausgaben. (Mahlers 4. Sinfonie? Beethovens 4. und 5. Klavierkonzert? Och nee, nicht schon wieder, hört der überaus Verwöhnte sich selbst aufstöhnen. Das Klavierquintett von Elgar hingegen, dann noch mit Yannick am Klavier: großartig.)
Am ersten Rachmaninow-Abend steht dessen viertes Klavierkonzert auf dem Programm. Hier möchte man schon zur Programmierung gratulieren. Es ist klasse, dass weder das 2. noch das 3. auf dem Programm stehen. Nichts gegen jene Werke, aber die Konzerte 1 und 4 sind mindestens ebenso interessant. Das vierte ist weniger eingängig als die sattsam bekannten Schlachtrösser, von denen das dritte seinerzeit einen unglaublichen Hype durch den Film Shine erlebte.
Nun also Freitag, kurz nach acht, Baden-Baden. Die Louboutins glänzen, Dirigent und Solist stürmen herein, Letzterer wehenden Haares. Das Konzert beginnt, da der Applaus kaum verebbt ist. Und es fegt ein halbstündiger Orkan durch den Saal, von dem man sich in der Pause schleunigst erholen sollte. In meinem vierköpfigen Dunstkreis fällt anschließend das Wort „dämonisch“ zur Darbietung Trifonovs, und das Erscheinungsbild des Solisten – lange Haare, langer Bart – vergleichen zwei Freunde unabhängig voneinander mit dem jungen Rasputin…
Es ist ein irre schwerer Solopart, den Rasputin da zu bewältigen hat. Seine Hände flitzen nur so über die Tasten, und es ist faszinierend, das zu sehen und das Resultat zu hören. Der Dirigent nimmt das Orchester kaum zurück, denn er weiß, es wird Trifonov nicht überdecken; die Klangbalance ist nahezu perfekt. Und in den ruhigeren Stellen hört man, was für gute Holzbläser das Philadelphia Orchestra hat.
Der langsame Satz beginnt mit einer kurzen, wie improvisiert wirkenden Kantilene des Solisten, bevor die eingängigste Melodie des Stücks vom Orchester vorgestellt und wieder vom Klavier aufgegriffen wird. Die herausragenden Streicher spielen unendlich variabel – mal zart, mal bestimmt. Und im düsteren Mittelteil grollt der Donner: Hörner und Pauke tragen zu einem C-Dur bei, das dunkler nicht geht.
Als Kaffee wäre das: Schwarz und ohne Zucker. Überhaupt ist es heute ein dunkel timbrierter Rachmaninow. Das Überzuckerte, das ihm oft vorgeworfen wird (manche hassen regelrecht seine Musik und holen sich masochistisch in Donaueschingen, was Sergei ihnen nicht gibt), gibt es hier allenfalls in den langsamen Sätzen und auch da nur sehr bedingt. Siehe oben, C-Dur.
Und dann geht’s attacca in den letzten Satz. Es ist alles so unglaublich gut, dass einem fast die Worte fehlen. Das Orchester ist so auf Zack, überhaupt nichts von Tourneestress zu merken, die beiden Geigengruppen sowas von blitzsauber und zusammen, dass man weinen möchte. Bevor der Satz in die Zielgerade einbiegt, wird es perkussiv, Grundton D, Pauke und große Trommel, und danach geraten die letzten Takte so toll, dass man staunt. So spielt nur, wer gut geprobt hat. Und wer vielleicht auch Sergei R. in den Genen hat, wie das beim Philadelphia Orchestra der Fall ist. Die Geschichte des Orchesters ist eng mit dem Komponisten verbunden, dessen Urenkelin bei der „Familienfeier“ in Baden-Baden anwesend ist und ein schönes Arrangement der Vocalise als Zugabe des Pianisten hört.
Zu Beginn der zweiten Sinfonie irritiert ein leises, unüberhörbares Geräusch. Wer quatscht denn da schon wieder? Gerade niemand, auch wenn vor der Pause enervierend getuschelt wurde – wieder in Reihe 13 übrigens. Schlechtes Omen, dass ich am Folgeabend dort sitze… Nein, diesmal ist es ein etwa 14-jähriger Bengel in Reihe 11, der irgendwas Gesprochenes hört, das aus seinen Airpods dringt. Konsonanten aus der Konserve. Wo sind die Eltern? Abwesend, wie vermutlich schon 14 Jahre lang. Was macht der Typ im Konzert, und von wem wurde er gezwungen, sich so etwas Langweiliges zu geben, wo er doch zuhause in Ruhe daddeln könnte?
Selbstredend ist mitnichten langweilig, was auf der Bühne abgeht. Die zweite Sinfonie konnte danach ungestört weitergehört werden. Leider verpasste ich aufgrund innerer Erregung diese herrliche Stelle zu Beginn, wo sich allmählich das e-Moll herauskristallisiert, diesen geheimnisvollen Akkord mit Grundton C, es wird schwelgerisch, sehr dicht, doch stets bleibt es düster; nur das G-Dur-Seitenthema kann als versöhnlich bezeichnet werden. Yannick dirigiert extrem elegant, fordert an den einschlägigen Stellen mit offener linker Hand – eine typische Geste – mehr Vibrato, mehr Herz, und er bekommt es. Die neun Akkorde zum Satzende gehen ins Mark.
Im Scherzo wird nahezu jeder Ton gemeißelt, es ist unbequeme Musik. Nichts Zuckriges, nichts Kitschiges. Ein ganz anderer Rachmaninow, der sich bereits in der CD-Aufnahme so darbot, zumindest andeutete. Wieder schimmert dieser geheimnisvolle Akkord vom Sinfoniebeginn durch, lugt dämonisch hervor. Der Mittelteil, das Trio in C-Dur, klingt wie Filmmusik, und hier, ja, hier haben wir den Rachmaninow, den alle kennen und viele lieben. Versöhnlich darf es nämlich auch mal sein.
Vor fast genau einem halben Jahr hatte Daniil Trifonov mit seinem Lehrer Sergei Babayan in Essen eine großzügige Zugabe gegeben, nämlich seine eigene Bearbeitung des langsamen Satzes der 2. Sinfonie. So schließt sich der Kreis. Auch in der Orchesterfassung wird der Satz grandios gespielt. Das lange Klarinettensolo von Ricardo Morales ist schlichtweg herausragend, es wird umschmeichelt von den zweiten Violinen und Bratschen sowie getupften Celli und Bässen. So möchte man es hören. Und man denkt kurz, dass die Menschheit vielleicht noch nicht ganz verloren ist, wenn jemand so etwas schreiben kann und Andere es so zu spielen imstande sind. Tolle Holzbläsersoli plus Horn. Insgesamt nie rührselig, sondern immer anrührend. Wie zum Ende dann das A-Dur verebbte, perfekte pizzicati: Selbst der Handybengel hielt inne, ist also mutmaßlich auch noch nicht verloren.
Die Handbremse war an diesem Abend nie angezogen, aber im letzten Satz der Sinfonie legte das Orchester noch einmal eine ungeheure Virtuosität an den Tag, die, gepaart mit unfassbarer Lockerheit, zur Sensation wurde. Auch in diesem Trubel gibt es zwischendurch Reminiszenzen an den Kopfsatz (der Akkord!) und den langsamen Satz. Ich mochte das Stück schon immer, aber an diesem Abend hörte ich es neu. Und ich erlebte, wie raffiniert es komponiert ist. Yannick tanzt und schwebt, er feuert eine schier ungeheuerliche Energie ins Orchester. Das Mysterium Dirigieren kann kaum beschrieben werden: Hier, in Baden-Baden gesehen und gehört, wird’s Ereignis.
Dr. Brian Cooper, 4. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Das Konzert vom 4.11. kann bei bei STAGE+ (Deutsche Grammophon) nachgesehen und nachgehört werden. ARTE sendet nach Weihnachten einen Zusammenschnitt der Konzerte vom 4. und 5.11.2023.