Foto: Die Frau ohne Schatten, Heever (c) Martin Sigmund
Im Festspielhaus Baden-Baden spielen die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko hinreißend opulent auf; tolle Inszenierung, eine exquisite Riege an Sängerinnen und Sängern, und insgesamt ganz, ganz große Oper
Baden-Baden, Festspielhaus, 9. April 2023
Richard Strauss (1864-1949) – Die Frau ohne Schatten. Oper in drei Aufzügen. Text von Hugo von Hofmannsthal
Musikalische Leitung: Kirill Petrenko
Berliner Philharmoniker
Inszenierung: Lydia Steier
Bühne: Paul Zoller
Kostüme: Katharina Schlipf
Licht: Elana Siberski
Dramaturgie: Mark Schachtsiek
Choreographie: Tabatha McFadyen
Video: Momme Hinrichs Maske: Rebecca Barrault
Die Kaiserin: Elza van den Heever
Der Kaiser: Clay Hilley
Die Färberin: Miina-Liisa Värelä
Der Färber: Wolfgang Koch
Die Amme: Michaela Schuster
Ein Mädchen: Vivien Hartert
von Brian Cooper, Bonn
„Besuchst Du eigentlich wirklich NIE Opern?“ fragte mich jüngst der Herausgeber dieses Blogs, wohl aufgrund der Vielzahl meiner Berichte über sinfonische Konzerte. Dochdoch, lautete meine Antwort, ich ginge schon sehr gern in die Oper, wenngleich zuletzt nicht mehr ganz so oft, mitunter wegen exzessiver Regie-Eitelkeit. Aber ich freute mich unbändig auf Die Frau ohne Schatten über Ostern in Baden-Baden.
Allzu oft wird sich nicht nur im deutschen Regietheater – das Wort hat inzwischen übrigens auch Einzug in die englische Sprache gefunden – an Partitur und Libretto vergangen. Das kann ich persönlich nicht ausstehen; andere Menschen finden das offenbar geil. In Madrid sah ich 2005 eine Zauberflöte von La Fura dels Baus, wo Teile des Texts gestrichen und durch Banalitäten ersetzt wurden, sowie drei Stunden lang unentwegt irgendwelche überdimensionierten Matratzen hin- und herbewegt wurden. Julia Kleiter musste ziemlich viel Zeit in einem Bällebad verbringen, warum auch immer („Die kleine Pamina möchte von ihren Eltern abgeholt werden“), aber die Stimme habe ich nie vergessen.
Und Bühnenbilder, die aus drei großen Styroporstücken bestehen, habe ich in meinem Leben auch schon zur Genüge gesehen. (Die schönsten Bilder, an die ich mich erinnere, waren in Zeffirellis Bohème an der Scala sowie Schneider-Siemssens Meistersinger-Bühnenbild in Düsseldorf. Ja, auch ich war mal in einer Wagner-Oper, denn man sollte kennen, was man nicht mag.)
Oper ist ein ziemlich teures und anspruchsvolles Genre, zugleich aber auch ein so wunderbares, vor allem, wenn es gut gemacht ist. Im lockeren Gespräch mit einer mir bekannten Regisseurin verwendete diese das Wort „Herzensbildung“. Lange nicht gehört! Und ja, genau. Wir brauchen das.
Was nun in Baden-Baden bei den Osterfestspielen 2023 nach sechswöchiger (!) Probenarbeit zu erleben war, darf man getrost als wunderbare Symbiose aus herausragendem Gesang, herrlichstem Orchesterklang und kluger Regie (Lydia Steier) bezeichnen. Ganz nebenbei: Niemand musste im Liegen singen, was man ja auch schon ad nauseam gesehen hat.
Die Frau ohne Schatten führt im Reigen der weiteren Opern des kongenialen Gespanns Strauss/Hofmannsthal (Der Rosenkavalier, Elektra, Ariadne auf Naxos) ein relatives, ähem, Schattendasein. Sie ist ultrakomplex, märchenhaft-mystisch und nur mit sehr viel Aufwand und noch mehr Liebesmüh überhaupt zu inszenieren.
„Mehr Aufwand gab es nie!“, schrieb denn auch das Festspielhaus im Newsletter, und – nicht schlecht, da witzig – „Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus“. Es ist ein Großereignis, wenn die Berliner Philharmoniker kommen, die Stadt pulsiert in mehreren Sprachen, an etlichen Frühstückstischen in den Hotels spricht man über Musik, und man wird schon ein wenig wehmütig, dass das Orchester ab 2026 wieder an die Karajan’sche Ursprungsstätte Salzburg zurückkehren wird. Tu felix Austria…
Denn man spielte unter Chefdirigent Kirill Petrenko einmal mehr vortrefflich auf. Herr Petrenko hat Oper in der DNA (Stichwort München und Berlin) und kennt jede Nuance dieser kniffligen Partitur. Welche Wärme er aus dem Orchester zaubert, das ohnehin zu den wärmsten aller Spitzenorchester zählt, das ist schlichtweg atemberaubend. Das heißt aber nicht, dass es nicht mal brutal zugeht, wenn die Partitur es erfordert: Die allerersten drei Töne der Oper, das Keikobad-Motiv sozusagen, verhießen einen prachtvollen Abend, und die drei Akkordschläge zum Ende des zweiten Aufzugs gingen durch Mark und Bein.
Elza van den Heever als Kaiserin und Michaela Schuster als Amme hatte ich in denselben Rollen bereits konzertant in Dortmund erlebt, in einer begeisternden Aufführung der Rotterdamer Philharmoniker unter Yannick Nézet-Séguin am 20.2.2020. (An dem Tag haben sicher viele Datumsfetischisten geheiratet, und das ging ja auch noch so gerade, ein paar Wochen später gab es den ersten Corona-Lockdown.)
Zu Beginn wurde Michaela Schuster als erkältet angesagt. Ganz ehrlich: Man merkte nichts davon. Und neben ihrem Mezzo war auch ihr Mienenspiel beeindruckend. Elza van den Heevers Kaiserin war zum Niederknien, vor allem bei „Falke! Falke! Warum weinst Du?“ im ersten Aufzug, im vom Violinsolo anrührend begleiteten „Vater, bist Du’s?“ sowie bei „Was ich berühre, töte ich“, beides im dritten Aufzug.
Die Kaiserin ist ohne Schatten unfruchtbar, und allein das wirft Fragen auf: Ist man nur Frau, wenn man zugleich Mutter ist? Sollte man das mitten im Ersten Weltkrieg komponierte Werk „aus der Zeit heraus betrachten“, wie unser Religionslehrer zu sagen pflegte, wenn er unseren jugendlichen Herausforderungen Widerstand zu leisten versuchte, um erneut irgendeinen wirren katholischen Irrsinn zu rechtfertigen?
Religion, genauer: Katholizismus, ist eines von mehreren Leitmotiven in Lydia Steiers virtuoser Inszenierung, die sich ganz in den Dienst der Partitur stellt. Auch wenn das ehekriselnde Färberpaar hier nicht färbt, sondern die pinke Puppenfabrik „Barak’s Babies“ betreibt, bleibt alles schlüssig. Ähnlich also wie bei Michael Hanekes Pariser Don Giovanni, bei dem der Schwerenöter ein CEO und Zerlina Teil der Putzkolonne ist. Solange die Noten gespielt werden und der Text unangetastet bleibt, sei unbedingt alles gestattet, was Sinn ergibt.
In die pinke Puppenfabrik kommen verträumt umherwandelnde Pärchen, die die ausgestellten Babypuppen begutachten, kaufen und in einer pinken Plastiktüte davontragen. Das alles ruft in mir starke Assoziationen hervor, eine diffuse Angst vor einer gruseligen Designerbaby-Zukunft, in der alles erlaubt ist, so man die Kohle hat.
Überhaupt: Assoziative „Man denkt an“-Momente gibt es viele an diesem Abend, und allein das ist ein intellektuelles Hypervergnügen. Denn auch wenn Die Frau ohne Schatten keine opera buffa ist, gibt es Momente der Komik in der Inszenierung, und durchaus auch gute Gründe, die drei Brüder Baraks (Peter Hoare, Nathan Berg, Johannes Weisser) mit den Gumbys von Monty Python, das Revueartige mit Loriots Ödipussi zu assoziieren: „Meine Schwester heißt Polyester“…
Es gibt sowohl in der Oper als auch in Steiers Inszenierung viel Symbolik, und man kann nach einmaligem Hören und Sehen beileibe nicht alles aufnehmen und verstehen. Insbesondere die religiöse Symbolik nimmt im dritten Aufzug zu, man denkt an Prozessionen in Süditalien oder Andalusien, wenn man die Autoflagellation der Amme sieht.
Frau Steiers hinzuerfundene Rahmenhandlung mögen manche für entbehrlich halten. Mich hat sie nicht gestört. Im Gegenteil: Die erst 13-jährige Vivien Hartert spielte eindrücklich die (stumme) Rolle des Mädchens, das offenbar selbst ein Kind verloren hat und zum Ende hin in der Erde wühlt.
Schöne Bilder gibt’s zuhauf, etwa die waidwunde Gazelle kopfüber auf der Treppe, auf der vorhin noch der Kaiser in Fred-Astaire-Manier herumgetänzelt hat. Clay Hilleys kaiserlicher Tenor ist besonders stark in „Meine Hände vermögen es nicht“. Wolfgang Koch singt fantastisch und spielt einen eher gemütlichen Barak, zumindest bis er dem Adonis eine reinhaut, der der Färberin einen (angedeuteten) sinnlichen Cunnilingus verpasst hat. Die wiederum wird absolut hinreißend von Miina-Liisa Värelä gesungen und gespielt, zunächst mit Kippe und Kittelschürze, letztere natürlich pink.
Momme Hinrichs’ Videoarbeit ist unaufdringlich und eine zielführende, sinnvolle Ergänzung, die dem Verständnis des komplizierten Plots dient, anstatt nur einem Selbstzweck zu dienen, wie man das bisweilen etwa bei Krzysztof Warlikowski erlebt (Video auf der Opernbühne = modern = super).
Das opulente Werk wurde durch großartige Leistungen der tollen Chöre (Chor des Nationalen Musikforums Wrocław, Cantus Juvenum Karlsruhe) abgerundet. Bühne, Licht, Kostüme: Alles trug zu einer vollendeten Opernerfahrung bei. Man wird sich noch lange daran erinnern.
Und dann Kirill Petrenko. Beim Schlussapplaus geschah Ungewöhnliches: Man hatte herzlich für Sängerinnen und Sänger applaudiert, durchaus mit vielen Bravi, aber dann, als der Dirigent von der Kaiserin auf die Bühne geholt wurde, erhob sich ein derartiger Jubelsturm für Dirigent und Orchester, wie ich das noch nie in einer Oper erlebt habe. Das Publikum erhob sich nahezu geschlossen. Übrigens gab’s auch schon nach den beiden Pausen Bravi für Herrn Petrenko. Und die Dame, die nach der Vorstellung zeitgleich mit mir am Hotel gegenüber ankam, sagte, sie käme aus Basel „für den Kirill“, wollte auch in Berlin in die konzertante FroSch-Aufführung gehen, aber „der Kirill“ sei ja immer ausverkauft.
Wenn „der Richard“ und „der Hugo“ das alles in Baden-Baden hätten erleben können, wären sie wohl begeistert gewesen. Doch natürlich konnte der Abend nicht mit Strauss enden, denn der 9. April 2023 war zugleich auch der 95. Geburtstag des großen Tom Lehrer. Das ist der, der angeblich mit Comedy aufgehört hat, als „der Henry“ (Kissinger) den Friedensnobelpreis bekam. Passend zum Ostersonntag hörte ich also auf dem Zimmer noch den „Vatican Rag“, danach „Hanukkah in Santa Monica“, zwei wunderbar respektlose Religionsparodien, und – hier geht’s dann wieder in die Strauss’sche Zeit – Tom Lehrers Lied über Alma Mahler-Werfel. „The loveliest girl in Vienna“. Eine Frau mit Schatten.
Dr. Brian Cooper, 10. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
NÜRNBERG: DIE FRAU OHNE SCHATTEN – NI am 23. Oktober 2022 6. Dezember 2022
Richard Strauss, Frau ohne Schatten, Wiener Staatsoper, 14. Oktober 2019