Foto © Olaf Struck
Richard Wagner, Siegfried
Theater Kiel, 25. März 2017
von Leon Battran
Richard Wagner geht es in seiner Adaption der germanischen Heldensage um nicht weniger als um das Werden und Vergehen der gesamten Welt – an einem Vorabend und drei Tagen. Die Handlung von Siegfried spielt am zweiten Tag, also unmittelbar, bevor alles den Bach hinuntergeht – diese Aufführung an der Kieler Oper zeigt dagegen geradewegs nach oben.
Zugegeben: Man sympathisiert nicht gleich von Anfang an mit der Figur Siegfried. Wagners Lichtgestalt wirkt zunächst doch eher wie ein vorlauter, etwas zu groß geratener Haudrauf, ein Schlägertyp, dem man nie etwas ausborgen würde, weil man wüsste, er würde es kaputtmachen. Das soll also der freie Held sein? Der die Macht hat, das Böse abzuwenden, der Welt ihr natürliches Gleichgewicht zurückzugeben und Frieden und Ordnung wiederherzustellen?
Doch wenn man den Tenor Bradley Daley singen hört, traut man ihm alles zu.
Wir befinden uns in mythischer Vorzeit, die von Menschen, Göttern und Sagengestalten bevölkert ist. Doch die Götter sind fehlbar; so ist dem Göttervater Wotan die Herrschaft über die Welt entglitten, sie krankt an Egoismus, Macht- und Habgier.
Der Nibelung Alberich hat der Liebe entsagt, den Rheintöchtern ihr Gold gestohlen und sich daraus einen Ring geschmiedet, der ihm die Macht zu herrschen verleiht. Wotan nimmt Alberich den Ring ab, um Freia bei den Riesen auszulösen, die ihm die Burg Walhall gebaut haben. Daraufhin verflucht Alberich den Ring.
Wotan vermag das Unheil nicht abzuwenden. Er zieht als Wanderer umher, ohne echten Einfluss auf den Lauf der Geschichte nehmen zu können. Und hier kommt nun Siegfried ins Spiel: er ist der menschliche Nachkomme des Göttervaters, auf ihm ruht alle Hoffnung. Auch Siegfried geht den Bach hinunter, er spaziert jedoch zur Höhle des Ungeheuers, denn der Riese Fafner hat sich in einen Drachen verwandelt und hütet den Ring der Macht.
Wagners mythische Welt erwacht in der Oper Kiel zum Leben – vor allem dank der Musik, die allzeit das Geschehen trägt! Sie ist viel mehr als bloß Untermalung. Gewissermaßen schafft das Orchester Bühnenraum und Kulisse und lässt lebhafte Szenerien entstehen.
Georg Fritzsch und das Philharmonische Orchester Kiel sind sich ihrer aktiven dramaturgischen Aufgabe vollauf bewusst und punkten mit einer großen dramatischen Spannweite. Das Orchester wirkt als musikalische Erzählinstanz zusammen, die auch imstande ist, mitzufühlen, zu leiden und zu träumen; die hier Spannung erzeugt und dort beruhigt, wärmt und einlullt.
Wagner klingt gut in Kiel: So entstehen zahlreiche fantastische Momente, die witzig, spannend und berauschend, in jedem Fall aber feinfühlig und ansprechend sind. Die Streicher flirren und flackern, das Blech brummt: die Posaunen sind prima und die Tuba röhrt in tiefster Basslage und sorgt so für das richtige Gruseln. Die Flöten lassen das Vöglein singen, das Siegfried treu zur Seite steht. Das Englischhorn erklingt auch mal herrlich unsauber und schnarrend, wenn Siegfried auf einem Schilfrohr bläst, um dem Vöglein zu antworten.
Die Sänger überzeugen mit einer kontinuierlich starken Leistung. Bradley Daley macht als Siegfried eine ausnehmend gute Figur. Den tollkühnen, unerschrockenen Kämpfer nimmt man ihm noch eher ab als den naiv blauäugigen Burschen. In der Aussprache hört man manchmal die australische Herkunft des Tenors heraus, stimmlich ist das aber top von vorne bis hinten, mit tollen kraftvollen Höhen – ein würdiger Götterspross!
Ein besonderes Glanzlicht ist die Szene, in der Siegfried das Schwert Nothung neu schmiedet. Hier erwacht die Bühnenmaschinerie zum Leben, Blasebälge zischen und stoßen Dampf aus. Dazu rötliche Beleuchtung, fast wähnt man sich in einem Laboratorium. Daley läuft zur Höchstform auf: „Hoho! Hahei!“, singt Siegfried voller Mut und Eifer, während er rhythmisch auf Stahl hämmert. Wagner komponiert einen Lamentobass, den die Kieler Spieler durchdringend und grollend zum Erklingen bringen. So geht Musikdrama!
Der Tenor José Montero in der Rolle von Siegfrieds Ziehvater Mime ist eine echte Entdeckung. Der gebürtige Spanier ist perfekt in der Rolle und singt sie vor allem mit der Schroffheit und dem „Schmutz“, den sie braucht. So ist zu Anfang trotz seines fiesen Charakters Mime und nicht Siegfried der Sympathieträger. Man ist regelrecht empört, dass Siegfried ihn ständig herumschubst und beleidigt. Die besten Gesangspartien vollführt Montero alias Mime, während er auf dem Dach seiner kleinen Hütte sitzt. Überhaupt nicht fies, sondern am sympathischsten von allen freut sich Montero nachher über den verdienten Applaus.
Der Auftritt zum zweiten Akt gehört Alberich, dem Nibelungen; grau und schmutzig kostümiert, wild und gefährlich und mit Mut zur Hässlichkeit erweckt der Kieler Bass-Bariton Jörg Sabrowski seine Figur zum Leben und lässt auch gesanglich keine Wünsche offen.
Hut ab auch für den wandernden Wotan, verkörpert von dem Bariton Thomas Hall. Wow, hat der eine Ausstrahlung! Er hat viel zu deklamieren, aber vor allem die etwas rarer gesäten sanglichen Passagen sind ein Genuss. Beim Auftritt zum dritten Akt setzt Hall Maßstäbe. Seine Baritonstimme hat einen besonderen Wiedererkennungswert und passt perfekt zu dem Wanderer. Dazu sieht er mit seinem flieder-gräulichen Mantel und der Augenklappe echt schnittig aus, wie ein Pirat, der plötzlich in die High-Society aufgestiegen ist.
Auf die Frauenstimmen muss man etwas warten, aber das lohnt sich. Mengenmäßig deutlich unterlegen, qualitativ hui und oho. Erda ist schlaftrunken und noch etwas wackelig auf den Beinen. Gesanglich wackelt gar nichts bei Tatia Jibladze, sie gibt ihre Partie berührend weich und träumerisch entrückt. Und das Waldvöglein Karola Sophia Schmid lässt jede Blaumeise vor Neid grün anlaufen.
Die finnische Sopranistin Kirsi Tiihonen hat eine solche Power, dass es einen nicht immer im positivsten Sinn vom Stuhl fegt. Die Stimme ist sehr laut und teilweise etwas schrill, die Durchschlagskraft passt aber zu Brünnhilde. Sogar Siegfried, der über Drachen nur lachen kann, wirkt da etwas kleinlaut und schüchtern. An den zarten Stellen entfaltet Tiihonen dagegen ein betörend hübsches und zartes Timbre.
Zum Schluss kommt noch die volle Ladung Blockbuster-Romantik auf: Brünnhilde und Siegfried schmettern aus vollem Halse und in strahlendem Dur „Sonnenhell leuchtet der Tag!“ und vollführen dabei die allseits bekannte Leo-und-Kate-Titanic-Gebärde.
Leon Battran, 27. März 2017
für klassik-begeistert.de
Wäre man kleinlich, könnte man an der ein oder anderen Stelle kritische Anmerkungen machen. Aber warum sollte man das sein, wenn diese Aufführung doch in jeder Hinsicht auch für uns „Genuss ohne Reue“ war. Kurzweilig inszeniert, engagiert musiziert – es lebe das „Provinztheater“!
Hans Währisch