Als ob der Mensch von grausigen Kriegsdramen aktuell nicht längst genug hätte, erschlägt einen die Lohengrin-Inszenierung des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov an der Opéra national de Paris mit aller Gewalt. Ein Horrorschauplatz, der Wagners episches Meisterwerk so dermaßen entmystifiziert, dass eigentlich nur noch die nackte Realität obsiegen kann.
Richard Wagner
Lohengrin
Kiril Serebrennikov, Inszenierung
Piotr Beczała, Johanni von Oostrum, Wolfgang Koch, Ekaterina Gubanova u.a.
Paris Opera Chorus
Paris Opera Orchestra
Dirigent: Alexander Soddy
Opéra national de Paris, Medici TV-Übertragung am 01. November 2023
von Nicole Hacke
So mittendrin im Krieg und im katastrophalen Tumult menschenverachtender Verhältnisse spielt die Sage um den Schwanenritter Lohengrin und polarisiert ungemein. Schockiert ist man über die dem Werk entrückte Interpretation, die den Zauber der hochromantischen Musik Wagners komplett auflöst. Was man auf der Bühne sieht, hat nichts mehr mit der Musik und der Intention des Komponisten zu tun.
Wie kann dieses Werk noch auf einer märchenhaften Sage basieren, wenn doch überall verwundete Soldaten und in Müllsäcken verpackte Leichen herumliegen und eine komplett verwirrte Elsa in dreifacher Ausführung über die Bühne wirbelt, als wäre der Ausnahmezustand das neue Normal. Verrückt ist diese Inszenierung und scheinbar nicht mehr geradezubiegen, genauso wenig wie der verwirrte Geist Elsas, der ziemlich schnell im Irrenhaus medikamentös ruhiggestellt wird. Dabei passieren merkwürdige Dinge, die man womöglich nur unter Drogeneinfluss wahrnehmen kann.
Dass sich plötzlich die Mauern um Elsa schließen, sie förmlich in die fensterlose Enge treiben, ihr den Atem rauben und klaustrophobische Schreie in ihr auslösen, potenziert den Effekt von Beklemmung, Depression und Angst. Verklärte Märchenwelten gibt es in diesem Regiewerk nicht. Und auch der Schwanenritter Lohengrin ist nur ein einfacher Soldat, der sich durch die geistige Entgleisung Elsas kämpft, um sie kämpft, mit ihr ringt, um sie am Ende ihrem Schicksal wieder zu überlassen.
Diese Interpretation macht keinerlei Hoffnung auf eine bessere Welt. Vielmehr ist es der Hohn des Regisseurs, der uns Menschen den Spiegel einer apokalyptischen Wahrheit schonungslos vor Augen führt. Wir sind verloren, wenn wir uns bekriegen und uns gesellschaftlich entzweien! Ausnahmslos verloren! Dass die Irren dabei schon längst unter uns weilen, womöglich sogar in uns, veranschaulicht der Regisseur mit schonungsloser Direktheit. Was Krieg in uns auslöst und wie er uns trifft, demonstrieren auch die kinematografischen Sequenzen, die Leid, Elend, Not und Tod auf den Plan holen und einen provokanten Kontrast zur monumentalen Musik Wagners setzten.
Mit einem Dream-Team von Opernsängern, die einfach Weltklasse sind, versöhnt die zutiefst verstörende Inszenierung zumindest auf gesanglicher Ebene.
Piotr Beczała, der sich bereits Anfang des Jahres als Lohengrin an der Metropolitan Opera in New York behauptet hat, verliert trotz der deprimierend düsteren Inszenierung nicht seine vokale Strahlkraft. Tatsächlich setzt er irisierend schöne Klangakzente, singt mit einer jugendlichen Elastizität, eleganten Phrasierungen und differenziert eingesetzter Dynamik. Seine Gralserzählung treibt den musikalischen Genussmoment auf die Klimax zu. Sie ist ein Erlebnis emotional eingefärbter Gesangskunst, die einen Vollblutakrobaten unter den Tenören feiern darf. Im Schauspiel hingegen hapert es allerdings gewaltig. Überzeugen kann die Rolle des Soldaten Lohengrin nicht ansatzweise, was sicherlich mit der schwer zu durchdringenden Inszenierung zusammenhängt.
Überraschend hinreißend und mitreißend grandios zeigt sich Johanni von Oostrum in der Rolle der Elsa. Ihre Stimme ist sattgolden timbriert, warmschmelzend und lupenrein in den exponierten Tonlagen, lebendig, frisch und jung und mit einer gehörigen Portion Esprit versehen, dass man sich kaum von dieser herrlichen Stimme lösen mag. Auch ihr Schauspiel überzeugt auf ganzer Linie. Viel verrückter kann man eine Rolle auch kaum noch spielen, zumal auch die spastischen Anfälle im Irrenhaus beeindruckend echt wirken. Warum sie im zweiten Akt ihre Haare lassen muss und ob sie eventuell sogar an Krebs erkrankt ist, scheint in dieser Inszenierung das abscheuliche Bild von Krieg, Seuchen und Tod zu komplementieren.
Ortrud und Telramund wirken in dieser Inszenierung deplatziert. Als Psychiater-Ehepaar einer Klinik kommt das Schauspiel der beiden Darsteller mehr lauwarm als leidenschaftlich rüber. Und auch gesanglich überzeugt die dramatische Mezzosopranistin Ekaterina Gubanova als Ortrud nicht wirklich. Zu schrill und hysterisch mutet ihr Gesang an, der sich gefühlt durch die oberen Tonregister quält.
Wolfgang Koch als Friedrich von Telramund zeigt sich in konstant guter vokaler Hochform. Satt und rund dringt sein sonorer Bariton in alle tiefen Lagen vor und lässt sich angenehm hören.
Mehr passiert allerdings auch nicht, was sehr bedauerlich ist, aber ob der konfusen Inszenierung auch verständlich.
Orchestral schwappen die emotionalen Temperaturen nicht über. Die opiatisch wirkende Musik Wagners verliert durch die schockierende Inszenierung ihren Glanz und damit ihre Aussagekraft. Mystifizierende Klänge, berauschende Klangwogen, überbordend narkotische Instrumentalmagie wird durch die szenisch-dramaturgische Ausgestaltung komplett eliminiert. Das Werk ist in seinem musikalischen Charakter kaum noch wiederzuerkennen. Die Musik klingt so anders, so verändert und modifiziert, dass man sich wahrlich fragt, ob das wirklich Wagners Lohengrin ist.
Wie schade, wenn sich eine Inszenierung auf das Podest der künstlerischen, vielleicht sogar politisch motivierten Eitelkeit erhebt und sich so radikal über die Musik hinwegsetzt, nur um ihrer unnötigen Überhöhung willen.
Nicole Hacke (operaversum.de), 8. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Lohengrin, Musik und Libretto von Richard Wagner Bayerische Staatsoper, 3. Dezember 2022 PREMIERE