„Salome“ an der Pariser Bastille-Oper. Foto: Agathe Poupeney / Opéra national de Paris
„Die haben alle ein Rad ab, einschließlich Jochanaan“, fasst meine Begleiterin auf dem Weg in die Pariser Nacht, nach der Aufführung der Salome, die Oper zusammen und wiederholt damit, ohne es zu wissen, sinngemäß den Kommentar von Richard Strauss selbst, der die Figuren seines Werkes allesamt für pervertiert hielt.
Richard Strauss Salome
Simone Young, Dirigentin
Orchestre de l’Opéra national de Paris
Lydia Steier, Regie
Momme Hinrichs, Bühne und Video
Andy Besuch, Kostüme
Olaf Freese, Licht
Elza van den Heever, Salome
John Daszak, Herodes
Karita Mattila, Herodias
Iain Paterson, Jochanaan
Tansel Akzeybek, Narraboth
Katharina Magiera, Page der Herodias
Opéra national de Paris, 21. Oktober 2022
von Sandra Grohmann
Dies ist die große Stärke der Pariser Neuinszenierung: Dass sie nicht nur – wie es der Tradition entspricht – den psychischen Niedergang der Titelheldin zeigt, sondern die Verderbtheit der ganzen Sippe des Tetrarchen Herodes und die ideologische Verblendung des Jochanaan. Auch der Prophet nämlich kapriziert sich auf die Anklage der Lüsternheit von Salomes Mutter Herodias. Salome weist er schroff zurück mit der die Adressatin völlig verfehlenden Empfehlung, sie möge in die Wüste gehen und sich dem anschließen, der dort predigt und Wunder tut und alle annimmt, die zu ihm rufen.
Das Elfte Gebot, das jener Wüstenprediger verkündet, das Gebot der Liebe, ignorieren jedoch alle Figuren – auch Jochanaan, der nur anklagen, aber nicht lieben kann. Zugleich sehnen sich alle nach der Liebe oder Gottesnähe, die ihnen völlig fremd ist. Ausgerechnet Salome, die sich zu Lust und Begierde bekennt und den Propheten schließlich morden lässt und dann das abgeschlagene Haupt küsst, ausgerechnet die Prinzessin beruft sich gegen Ende der Oper sogar auf die Liebe, deren Mysterium größer sei als der Tod. Es ist deshalb ausnahmsweise auch ein folgerichtiger Regieeinfall, ihre Figur zu doppeln und aus dem Satz über das Mysterium die gesungene Vision einer Himmelfahrt Salomes und Jochanaans (im Käfig des Jochanaan) abzuleiten, während sich der librettogemäße Fortgang der Oper mit der anderen Salome stumm auf dem Boden abspielt.
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Opéra national de Paris, 21. Oktober 2022“ weiterlesen