Kein Entrinnen vor den Fängen der Macht: Verdis "Don Carlos" berührt in der Pariser Oper

Giuseppe Verdi, Don Carlos,  Opéra National de Paris, Opéra Bastille, 11. November 2019

Fotos: Copyright Vincent Pontent, OnP
Roberto Alagna (Don Carlos) und Étienne Dupuis (Rodrigo)

Opéra National de Paris, Opéra Bastille, 11. November 2019
Giuseppe Verdi, Don Carlos

von Lukas Baake

Es scheint, als ob die Pariser Oper in dieser Saison einfach nichts falsch machen kann. Jede Inszenierung ist ein Genuss und überzeugt durch ein Sängerensemble, das eine gute Mischung aus hochkarätigen Stars und vielversprechenden Newcomern bietet, eine interessante, stets kluge, aber immer maßvolle Inszenierung und grandiose Leistungen von Orchester und Dirigent. Dies gilt auch für Verdis „Don Carlos“, der in der fünfaktigen, italienischen Fassung in der Opéra Bastille zu sehen ist.

Die Pariser Inszenierung zeichnet die Macht als allesverschlingendes Ungeheuer, an dessen Zwängen die Liebe, politische Ideale oder das persönliches Glück scheitern. Die kühle Logik des Staates, an der letztendlich alle Protagonisten zerbrechen, löst die bereits im ersten Akt entfaltete Grundproblematik aus: Aus Staatsräson kann die französische Prinzessin Elisabeth nicht ihren Geliebten Don Carlos heiraten, sondern nimmt an seiner statt dessen Vater, den spanischen König Philipp II, zum Gemahl. Von dieser Entscheidung ausgehend, entfalten sich die weiteren Konflikte des Stückes: Realismus gegen Idealismus, Tradition gegen jugendlichen Sturm und Drang, Staatsräson gegen den moralischen Imperativ. Ein Widerspruch, der sich nicht dialektisch auflöst, sondern unheilvoll entlädt.

Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski, ein Star in seiner Heimat und der Pariser Oper seit mehreren Jahren verbunden, leuchtete die Facetten der Charaktere gekonnt aus, machte Handlungsmotive deutlich und konnte so den Spannungsbogen über die gesamten viereinhalb Stunden der Aufführung aufrechterhalten. Es wurde ein erdrückendes Psychogramm des Scheiterns gezeichnet, das sich dem Zuschauer in den immer wieder auftauchenden, übergroßen Projektionen der leidverzerrten Gesichter der Protagonisten einprägte. Die Inszenierung war nicht überladen. Die Personenführung war stimmig und das Bühnenbild bot dem Sängerensemble genügend Raum zur Darstellung der spannungsreichen Figurenkonstellationen.

Eine sängerische Glanzleistung durfte der staunende Zuschauer mit Aleksandra Kurzaks Darbietung der Elisabeth erleben. Die polnische Sopranistin wusste ihren geschmeidigen und warmen Sopran besonders in den kantablen Passagen mit ihren Sängerkollegen einzusetzen. Dies galt vor allem für das ergreifende Duett mit Don Carlos („Di quale amor – di quanto ardor“), in der sie die feinen psychologischen Schattierungen, die Verdi in die Partitur gewebt hat, zum Klingen zu bringen verstand.

Zu bedauern ist, dass sie mit Roberto Alagna, 56, in der Titelrolle des Don Carlos keinen ebenbürtigen Partner fand. Dieser hatte keinen guten Abend erwischt und konnte nicht überzeugen – klassik-begeistert.de hat ihn wiederholt mit mäßigen Leistungen erlebt in der letzten Zeit, er hat seinen Zenit deutlich überschritten. Gerade zu blass wirkte sein Tenor neben den teilweise überragenden Leistungen seiner Kollegen. Dies zeigte sich besonders in dem berückenden Duett zwischen ihm und Rodrigo („Che Nell’alma Infondere Amor“), normalerweise einer der Höhepunkte der Oper. Wo sonst jugendliche Leidenschaft und der Aufruf zur Freiheit begeistern, waren an diesem Abend die Schwächen von Alagna gerade in den Höhen deutlich zu hören.

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René Pape überzeugt als Philipp II

Wettgemacht wurde dieses Defizit von Étienne Dupuis, der die dankbare Rolle des Rodrigo eindrucksvoll zu verkörpern wusste. Der kanadische Bariton konnte kräftig, geschmeidig und ohne sichtliche Anstrengung die Figur des politischen Träumers darstellen und wurde dafür vom Pariser Publikum zurecht mit großem Beifall bedacht.

Zum Liebling des Publikums avancierte Anita Rachvelishvili als Prinzessin Eboli, die forsch und mutig die ganze Breite ihres Mezzosoprans präsentierte. Dabei verstand sie es, zwischen viriler Kraft und weiblicher Grazie mühelos zu wechseln und drückte ihrer Rolle so, in Verbindung mit Warlikowskis Regiearbeit, eine emanzipatorische Note auf.

René Pape, dessen kraftvoller und unbändiger Bass dem deutschen Opernbesucher wohlbekannt sein dürfte, wusste auch das Pariser Publikum für sich zu begeistern. Das omnipräsente Scheitern, das die Inszenierung in der Opéra Bastille beherrschte, wurde besonders eindrücklich von ihm dargestellt: Die Metamorphose des gravitätischen und machtbewussten Dynasten zum alkoholabhängigen und einsamen Ehemann („Ella giammai m’amo“) ging unter die Haut.

Während die Leistung des Sängerensembles von mangelhaft bis überragend reichte, genügt ein Wort aus, um die musikalische Leitung von Fabio Luisi zu beschreiben: Weltklasse! Die aus dem Orchestergraben in den großen, weiten Raum der Opéra Bastille strömenden Klänge konnten einmal mehr den Ruf des Italieners als großer Kenner des italienischen Repertoires bestätigen. Insbesondere die Vorspiele zu den Akten waren ein musikalischer Hochgenuss, der besonders von den mächtigen Blechbläsern und den fantastisch aufgelegten Streichern getragen wurde.

Mit Verdis „Don Carlos“ geht der grandiose Lauf der Pariser Oper in dieser Saison weiter. Dies macht Lust auf die kommenden Wochen in der Borodins „Prinz Igor“ und Aribert Reimanns „Lear“ ihre Premiere feiern werden.

Lukas Baake, 14. November 2019, für
klassik-begeistert.de

Musikalische Leitung, Fabio Luisi
Regisseur, Krszystof Warlikowski
Philipp II, René Pape
Don Carlo, Robert Alagna
Rodrigo, Étienne Dupois
Großinquisitor, Vitalik Kowalkow
Mönch, Sava Vermic
Elisabeth, Aleksandra Kurzak
Prinzessin Eboli, Anita Rachvelishvili
Tebaldo, Ève-Maud Hubeaux
Die Stimmes des Himmels, Tamara Banjesevis
Fürst von Lerma, Julien Dran
Flämische Gesandte, Peitro Di Bianco, Daniel Giulianini, Mateusz Hoedt, Tomasz Kumiega, Tiago Matos, Alexander York
Ein königlicher Herold, Voncent Morell
Inquisitoren, Vadim Artamonov, Fabio Bellengui, Marc Chapron, Enzo Coro, Julien Joguet, Kim
Corifeo, Bernard Arriete

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