Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg 2024 © Enrico Nawrath
Zum Abschluss einer satten Hügelwoche sei an dieser Stelle ein herzlicher Dank an alle blauen Mädchen und Buben gerichtet, die geduldig und freundlich ihre Arbeit tun – Verzeihung! – Tempeldienst leisten! Und nochmal ein Appell an die Verantwortlichen, die zuweilen etwas zwanghaften Kartenkontrollen zuliebe einer rigiden Handy-Politik zu überdenken. Das Festspielhaus ist kein Hochsicherheitstrakt, aber (wie fast alle Opern- und Konzerthäuser) mittlerweile ein Hort von Ignoranten. Das dringt aus dem Zuschauerraum von denjenigen, die Kunst und Mitmenschen respektieren, aber auch Mitwirkende äußern sich bereits hochgenervt. Hier muss etwas geschehen!
Richard Wagner
Tannhäuser (II)
Bayreuther Festspiele, 4. August 2024
Nathalie Stutzmann, Dirigentin
Klaus Florian Vogt, Tenor
Markus Eiche, Bariton
Elisabeth Teige, Sopran
Irene Roberts, Mezzosopran
Günther Groissböck, Bass
Ólafur Sigurdarson, Bariton
Siyabonga Maqungo, Tenor
Festspielorchester und -chor Bayreuth
Tobias Kratzer, Inszenierung
von Dr. Andreas Ströbl
Viele derer, die in den 60er und 70er Jahren geboren sind, werden mit dem liebenswerten Hörspiel „Der Sängerkrieg der Heidehasen“ von James Krüss prä-Wagner-sozialisiert worden sein, das parodistisch Elemente aus dem „Tannhäuser“ und den „Meistersingern“ aufgreift; der Held ist hier der Hase „Lodengrün“. Machte man später dann ernsthafte Erfahrungen mit der Wagner-Droge, erkannte man viele Details wieder und war mit ironischer Brechung des „Sängerkriegs“ von Anfang an vertraut.
Aber schon wenige Jahre nach der Uraufführung von Wagners romantischer Oper brachten die ersten Parodien Wagner-Jünger und -Feinde zum Lachen. „Tannhäuser und die Prügelei auf Wartburg“ von Hermann Wollheim von 1852 griff fünf Jahre später Johann Nestroy als „Zukunftsposse mit vergangener Musik und gegenwärtigen Gruppierungen in drei Aufzügen“ auf. Verse wie „Wollt Ihr der Liebe Glück mit Löffeln fressen, Wohlan, so geht und kneipt im Venusberg!“ oder „Ich folge Dir, Geliebte, in die Gruft, und Dich, Frau Venus, setz’ ich an die Luft!“ machen einfach Spaß, ohne das Original tatsächlich zu beleidigen.
Ebenso ist es mit Tobias Kratzers Inszenierung, die sich vom Prügelknaben der Kritik in den vergangenen fünf Jahren zum Publikumsliebling gewandelt hat. Was ist hier passiert?
Die Wahrheit ist: Dieser „Tannhäuser“ mit den Videos von Manuel Braun und der Bühne sowie den Kostümen von Reiner Sellmaier ist gar keine Parodie. Klar, der erste Aufzug als Road-Movie mit der anarchischen Darstellertruppe ist natürlich eine komplette Brechung, aber das in jeder Hinsicht bunte Quartett aus dem traurigen Clown, der regelverachtenden Hedonistin, der schwarzen Drag-Queen und dem kleinwüchsigen Oskar mit Blechtrommel in Oskar Matzerath-Manier greift das Außenseiter-Thema des freien Künstlers auf, der sich gegen die Gesellschaft und ihre leitkulturellen Normen stellt. Damit geht es zentral um das Bekenntnis zu Wagners revolutionärem Freiheitsideal.
Vielleicht der wichtigste Aspekt ist, dass aus der ganzen Produktion in keiner Sekunde Spott mit Wagners romantischer Oper getrieben wird, sondern sich hier eine tiefe und aufrichtige Liebe zum Werk, zu Wagners positivsten Seiten und zum Festspielhaus auf überraschende Weise Bahn bricht und vor allem auf das Publikum überträgt. Es gibt ja nach dem ersten Aufzug eine ausgelassene Show am Weiher mit der Dragqueen Le Gateau Chocolat, Venus und Oskar (Manni Laudenbach); niemand nimmt sich ernst, alle sind bester Stimmung und man braucht nicht mal einen überteuerten Champagner getrunken zu haben, um sich am liebsten mit in den Teich zu stürzen. Toleranz, Freiheit, Spaß – das ist wie „Love Parade“ mit Wagner-Mucke, ohne dass das aufgesetzt wirkt.
Anders als bei Produktionen mit intellektualisierten Meta-Ebenen, die einem erstmal erklärt werden müssen (Neuenfels-„Lohengrin“, Schwarz-„Ring“ etc.), wird man in diesen „Tannhäuser“ soghaft hineingezogen und befindet sich mittendrin und allgemeinverständlich in den zentralen Themen. Die Entscheidung für die Dresdner Fassung macht die Distanz zum üblichen Venusberg-Bacchanal leichter – Sellmaier nennt diese Fassung „roher“ und „noch viel stärker vom revolutionären Impuls geprägt“.
Die Ankunft der Truppe am Festspielhaus katapultiert das Geschehen ins Hier und Jetzt; spätestens an diesem Moment „passiert“ die Produktion nicht auf der Bühne, sondern umhüllt das Publikum und macht es zum Teil der ganzen Inszenierung – eine geniale Idee!
Durch den Verfremdungseffekt des ersten Aufzuges gelangt man durch das Lachen plötzlich in den Ernst und die Authentizität des zweiten – das ist Bertolt Brecht- und Wagner-Stilmittel gleichermaßen. Auch bei Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ gelingt ja eine Mischung aus opera seria und buffa, das Konzept ist diesbezüglich probat und bewährt.
Natürlich wird durch die Video-Einspielungen mit den humorvollen Blicken hinter die Bühne deutlich, dass der zweite Aufzug „nur“ Theater ist, aber wann hat man den „Sängerkrieg“ tatsächlich als handfesten Konflikt mit Beleidigungen und körperlichen Auseinandersetzungen erlebt? Das ist reinster „Tannhäuser“, auch wenn die Szene mit einer (wie in der ganzen Inszenierung) traumhaft lebendigen und individuellen Personenregie dann wieder aufgelöst und mit der Handlung des ersten Aufzuges verbunden wird. Aber auch das funktioniert, weil das Künstler-Gesellschafts-Thema auf die Spitze geführt wird – samt Abführen Tannhäusers durch die von Katharina Wagner gerufene Bayreuther Polizei.
Wer meint, dass diese Produktion sich nicht mit tiefstem Ernst auch den traurigsten Themen widmet, täuscht sich endgültig im dritten Aufzug, denn der wartet mit einer der unglücklichsten Sexszenen der Theatergeschichte, dem Suizid Elisabeths und der geplatzten Illusion des Titelhelden von einer echten Beziehung auf. Auch darin bietet dieser „Tannhäuser“ einen emotionalen Superlativ.
Musikalisch zeigt der 4. August ebenfalls echte Höhepunkte. Klaus Florian Vogt als Tannhäuser singt zwar zunächst gewohnt bubenhaft, steigert sich aber in Aufzug zwei und drei; im Letzteren nimmt er sich endlich mal die Freiheit zum Spiel mit dem Text. „Wooolfram bist du, der wohlgeübte Sänger“, spottet er mit wundervoller Parodie eines ehrerbietenden Grußes. Das führt er in der Rom-Erzählung fort und imitiert einen näselnden, selbstgefälligen Papst. Sein Konkurrent ist Markus Eiche, der Wolframs Lied an den Abendstern mit romantischem Schmelz singt; auch sein Sängerkrieg-Beitrag ist erlesen; man beobachtet auf dem Parallel-Video Vogts Anerkennung für den Kollegen. Bei seinem „Blick ich umher in diesem edlen Kreise“ denkt man an den „herrlichen Bariton“ aus Thomas Manns „Zauberberg“, wenn dort die Stelle zitiert wird.
Als Venus ist an Charme, Biestigkeit und Agilität Irene Roberts nicht zu überbieten, auch gesanglich gibt sie der lebenshungrigen Göttin, die hier ganz menschlich auftritt, eine warme und präsente Stimme. Elisabeth Teige ist eine Traum-Elisabeth; zwar ist ihr Gesang im ersten Auftritt stark von einem Tremolo geprägt, aber sie findet im weiteren Verlauf zu einer natürlichen, sehr aufrichtigen Wiedergabe.
Günther Groissböck ist ein Landgraf Hermann, wie man ihn sich wünscht, gewohnt kernig, mannhaft und ausdrucksstark. Präsent und ausgesprochen individuell in der gesanglichen und spielerischen Gestaltung der Personen sind auch der brillante Siyabonga Maqungo (Walther von der Vogelweide), der unverwüstliche Ólafur Sigurdarson (Biterolf) sowie Martin Koch (Heinrich der Schreiber) und Jens-Erik Aasbø (Reinmar von Zweter).
Flurina Stuckis Auftritt als Junger Hirt auf dem Fahrrad ist ein wundervoller Einfall, sie gibt der Nebenrolle einen sehr charmanten Akzent. Die Edelknaben sind hier junge Hofdamen (Simone Lerch, Irene Roberts, Laura Margaret Smith und Annette Gutjahr), die ihre Rolle mit viel Humor spielen.
Nathalie Stutzmann legt ein makelloses Dirigat mit Sensibilität für die sanften Zwischentöne hin, das Festspielorchester beweist seine Wandelbarkeit in den Stimmungen von majestätisch bis zartfühlend – wie schön, dass die Harfe beim Sängerwettstreit auf der Bühne geschlagen wird!
Machtvoll und exakt singt der Festspielchor unter Eberhard Friedrich, hier stimmt dynamisch und vom Tempo her tatsächlich alles.
Neu im fünften Jahr der Produktion das Plakat mit der Aufschrift „Dr. Claudias Kasperletheater – Hänsel & Gretel“, ein Seitenhieb auf Kulturstaatsministerin Roths abstruse Neuerungs-Ideen, und der rührende Schnaps-Gruß im Citroën-Kastenwagen an den verstorbenen Stephen Gould. Da passiert etwas Neues: Neben dem „Donauwalzer“ gibt es nun ein weiteres Musikstück, das von Beifall unterbrochen werden darf – das Tannhäuser-Vorspiel in Kratzers Inszenierung, in Würdigung eines ganz besonderen Künstlers.
Sehr langanhaltender, stürmischer Beifall ohne den Hauch eines selbstgefälligen Bayreuth-Buhs beschließt einen Abend, der viele Menschen sehr glücklich gemacht hat.
Zum Abschluss einer satten Hügelwoche sei an dieser Stelle ein herzlicher Dank an alle blauen Mädchen und Buben gerichtet, die geduldig und freundlich ihre Arbeit tun – Verzeihung! – Tempeldienst leisten! Und nochmal ein Appell an die Verantwortlichen, die zuweilen etwas zwanghaften Kartenkontrollen zuliebe einer rigiden Handy-Politik zu überdenken. Das Festspielhaus ist kein Hochsicherheitstrakt, aber (wie fast alle Opern- und Konzerthäuser) mittlerweile ein Hort von Ignoranten. Das dringt aus dem Zuschauerraum von denjenigen, die Kunst und Mitmenschen respektieren, aber auch Mitwirkende äußern sich bereits hochgenervt. Hier muss etwas geschehen!
Dr. Andreas Ströbl, 6. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Parsifal, Tannhäuser Bayreuther Festspiele, 27. & 28. August 2023