Ritterbands Klassikwelt 18: Lob der Stille

Ritterbands Klassikwelt 18: Lob der Stille

„Wir haben uns daran gewöhnt, Musik laut zu hören. Viel zu laut, eigentlich. Und dann gehen wir ins Opernhaus zur Live-Vorstellung und wundern uns, dass uns die Stimmen dort gefallen, ja begeistern und entzücken – aber längst nicht mehr zur Ekstase treiben. Wir sind, sozusagen, akustisch blasiert.“

von Charles E. Ritterband

„The Sound of Silence“ – die Klänge der Stille: Poetischer war selten ein Paradoxon! Und doch – wer je die Stille der Wüste erfahren hat, der weiß, dass die Stille Klänge hervorbringt, dröhnende Töne, das Pulsieren unseres eigenen Blutes in den Ohren. „Sound of Silence“ betitelte Paul Simon seine im Oktober 1964 geschaffene Komposition. Sie blieb unbeachtet. Vorerst. Denn ein knappes Jahr später, am 13. September 1965 erschien eine überarbeitete Fassung als Single. Von da an ging es senkrecht hinauf mit dem „Klang der Stille“. Denn im Jahr darauf schaffte diese Single in den USA die Spitzenposition in den Charts – und eroberte bald auch die österreichische und die deutsche Musikszene.

Kein Teenager, der dieses Lied nicht kannte und es nicht unablässig vor sich hinsummte. „Sound of Silence“ machte Simon & Garfunkel zu einer Weltmarke im Musikbetrieb, wurde in seiner romantischen Verträumtheit zur Kennmelodie der Hippie-Szene und zum Titelsong des Kultfilms „The Graduate“ (mit Dustin Hoffmann in der Hauptrolle des zugleich in Mutter und Tochter verliebten College-Absolventen Benjamin Braddock). Vor dem lärmigen Hintergrund des Vietnamkriegs war „Sound of Silence“ ein Song, der die Sehnsucht einer ganzen Generation nach Frieden und Harmonie verkörperte – eine Hymne auf die Stille in einer Welt der unablässig dröhnenden Presslufthämmer, der startenden Düsenjets, der Geräuschkulisse aller amerikanischen Städten mit ihren unablässig heulenden Sirenen von Polizei, Feuerwehr und Ambulanzen.

Doch der Rest ist Schweigen, „The Rest is Silence“ – des Prinzen Hamlet letzte Worte vor seinem Tod durch eine heimtückisch vergiftete Degenspitze, im 5. Akt von Shakespeares großem Drama. Silence, das Schweigen – der Tod. „The Rest is Silence“ ist die Nummer zwei in der Hitparade der unsterblichen Shakespeare-Zitate, die auch das anspruchsloseste Schulkind im Schlaf kennt. Denn Nummer eins, ebenfalls aus Hamlet, ist selbstverständlich „Sein oder Nichtsein“.

Wie aber hat sich der berühmte Barde aus Stratford-upon-Avon in die Welt der Hippies verirrt? Zwei Jahre nach Simon & Garfunkels „Sound of Silence“ hielt Shakespeares „The Rest is Silence” ins reichlich kommerzialisierte aber vom New Yorker Broadway zum Londoner West End umso erfolgreichere Hippie-Musical „Hair“ (1967) Einzug. Dort wird schwärmerisch dazu aufgerufen, Sonnenstrahlen in das Leben der Menschen herein zu lassen, „Let the Sunshine in!“ – doch unvermittelt hält im Refrain der Tod Einzug: Der Rest ist Schweigen „The Rest is Silence“. Warum genau? Wir werden es nie erfahren.

Jahrzehnte später: Plötzlich steht alles still. Lockdown. Staatlich angeordnetes Schweigen. Es ist gespenstisch. Plötzlich keine Flugzeuge mehr, die den Luftraum und keine Kreuzfahrtschiffe, welche die Weltmeere durchkreuzen. Eine nie gehörte Stille breitet sich aus, und mit ihr die Vision, man befinde sich plötzlich wieder am Urbeginn der Schöpfung. Man wird fast andächtig, ehrfürchtig.

Die Autos, die Maschinen, die Flugzeuge, die Motorräder, die Lokomotiven, Schiffe – sie mögen schweigen. Aber die Natur schweigt deshalb nicht. Ganz im Gegenteil. Sie hat rasch die Stille erobert. Ihre Geräusche breiten sich aus, wo vorher menschliches Lärmen war. Plötzlich singen die Vögel lauter. Oder scheint es nur so? Beginnen wir jetzt, in der Stille, den Vogelgesang erst richtig wahrzunehmen? Denn eigentlich müssen die Vögel gar nicht lauter singen – denn sie müssen sich im Lockdown keine Mühe geben, ständig Motorenlärm zu übertönen. Dies wird übrigens von den Ornithologen bestätigt. Die Vögel singen jetzt nicht lauter. Wir hören ihnen nur jetzt besser zu.

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Die Sopranistin Elisabeth Söderström hatte einst, bei ihrem Debut in Stockholm, behauptet, das lauteste Geräusch, das man auf der Welt hören könne, sei ein Sopran, der durchstartet. Das war natürlich Unsinn, denn schon lange hatte es Gewehrschüsse, Explosionen und Kanonendonner gegeben. Aber im allgemeinen, war die Welt des Jahres 1947 eine Welt ohne Verkehrsdröhnen und Überschallknall. Und die Laboratorien der Columbia-Musikgesellschaft hatten Stereo noch lange nicht auf den audiophilen Markt geworfen.

Und die Söderström war noch bei weitem nicht die Lauteste. Birgit Nilsson soll zwei Jahre später, 1949, als Brünnhilde, mit ihrer Stimme Glas zum Bersten gebracht haben. Mythos oder Factum – das wurde jedenfalls weltberühmt. Jussi Björling soll, bevor er selbst häufiger zum Glas gegriffen hatte, mit seiner gewaltigen Stimme Pferde auf einer weit entfernten Weide in Panik versetzt haben. Träger auf dem Markt von Covent Garden sollen ihre Lasten fallengelassen haben, als Kirsten Flagstad durch das offene Fenster in einem Proberaum des dortigen Opernhauses ihre Stimme erschallen ließ. Irgendetwas muss das mit den Wikingern zu tun haben – deren nordische Nachkommen sind stimmgewaltiger als jene anderer Völker.

In unserer Welt der künstlich verstärkten Töne in High-Fidelity-Gerätschaften entgeht uns die sinnliche Erfahrung eines in voller Lautstärke live dahinschmetternden Soprans. Nina Stemme (natürlich auch eine Skandinavierin, nämlich Schwedin) ist heute die lauteste Stimme auf den Opernbühnen. Dennoch – sie kommt nicht auf die 100 Dezibel, welche ihre Vorgängerinnen Flagstad und Nilsson zu liefern vermochten.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Menschheit allmählich taub. Als Teenager mussten wir, ob wir es genossen oder nicht, wohl oder übel in die Disco – und selbst der unauffälligste Gehörschutz war selbstverständlich verpönt, gleichzusetzen mit Hochverrat an der Teenagerszene. Dann kamen die Walkmans und bald hatte jeder nur noch Kopfhörer an. Jugendliche sind generell unansprechbar, ihr Kopf befindet sich zumindest akustisch in einer ganz anderen Sphäre. Auch Schreien, Brüllen nützt da nichts. Allenfalls Handzeichen.

Wir alle hängen inzwischen mehr oder weniger permanent an Kopfhörern, von den kruden Fabrikaten bis hin zu edlen High-End-Produkten. Ergebnis: Wir haben uns daran gewöhnt, Musik laut zu hören. Viel zu laut, eigentlich. Und dann gehen wir ins Opernhaus zur Live-Vorstellung und wundern uns, dass uns die Stimmen dort gefallen, ja begeistern und entzücken – aber längst nicht mehr zur Ekstase treiben. Wir sind, sozusagen, akustisch blasiert.

Der britische Altistin Isobel Baillie gab einst in schönen Worten die simple Wahrheit von sich „Never Sing Louder than Lovely“ – etwa: Sing nie lauter als es schön klingt. Sie sang in nicht weniger als 1000 Vorstellungen des Messiah, machte noch mit 79 Schallplattenaufnahmen – und nie lauter, als wirklich notwendig. Die meisten Sängerinnen und Sänger können nicht wirklich etwas dafür, wenn sie zu laut singen. Manche Dirigenten zwingen sie dazu – um des Effekts willen. Herbert von Karajan war berüchtigt in dieser Beziehung – und ruinierte so manch vielversprechende Gesangstimme für immer. Und auch für Georg Solti konnte es gar nie laut genug sein. Seine Zeit am Pult des Chicago Symphony Orchestra brachte alle anderen amerikanischen Orchester dazu, zu einem unseligen Wettkampf um Lautstärke anzutreten. Überspitzt gesagt: Die Qualität von amerikanischen Orchestern wurde damals in Dezibel gemessen. Und niemand wagte es, jemals pianissimo zu spielen. Der Dirigent hätte sogleich abgeklopft.

Dass wir noch eine Weile Live-Orchesterkonzerte entbehren müssen, könnte sich als Chance erweisen: Lautstärke zurückzuschrauben. Unsere Ohren wieder auf leises Hören einzustellen. Subtile Nuancen hörbar machen.

Charles E. Ritterband, 16. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur“, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.

Charles E. Ritterband mit seinem Königspudel auf der Isle of Wight

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