- Das Paradies und die Peri HH © Monika Rittershaus
„Das Paradies und die Peri“ begeistert auch bei der vierten Aufführung.
Ist das wirklich eine Zumutung – das Durchbrechen der „vierten Wand“, also der unsichtbaren Membran zwischen Bühnengeschehen und Publikum? Zumindest wird das im Programmheft zu „Das Paradies und die Peri“ von Robert Schumann in der Inszenierung von Tobias Kratzer an der Hamburger Staatsoper erwogen. Was passiert hier eigentlich inszenatorisch und warum funktioniert das so gut?
Robert Schumann, Das Paradies und die Peri
Weltliches Oratorium in drei Teilen
Omer Meir Wellber, Dirigent
Vera-Lotte Boecker, Sopran
Lunga Eric Hallam, Tenor
Ivan Borodulin, Countertenor
Christoph Pohl, Bariton
Kady Evanyshyn, Mezzosopran
Eliza Boom, Sopran
Kai Kluge, Tenor
Annika Schlicht, Alt
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Tobias Kratzer, Inszenierung
Hamburgische Staatsoper, 14. Oktober 2025
von Dr. Andreas Ströbl
Warum dieses weltliche Oratorium?
Die persische Legende von der Peri, einem feenähnlichen Wesen, das (aufgrund welcher Sünde auch immer) aus dem Paradies heraus- und in die Welt hineingeraten ist, und nun drei Versuche hat, um wieder in die himmlischen Gefilde zu kommen, geht auf eine Geschichte des persischen Dichters Shaikh Inayat-Allah Kamboh zurück. Die hat wiederum der Ire Thomas Moore bearbeitet, die von einem hohen Ton geprägte Übersetzung von Emil Flechsig bildet das Libretto von Schumanns Vertonung.
Für Regisseur Tobias Kratzer ist dieses Oratorium „eines der zentralen Schlüsselwerke des 19. Jahrhunderts“, er sieht es auf Augenhöhe mit den Kompositionen von Wagner und Strauss. Das in dieser Schöpfung liegende Potential bietet für Kratzer die Möglichkeit einer Aktualisierung mit entsprechender politischer Aussage. In unsere Welt hineingeworfen wie ein gefallener Engel, sieht sich das, wie das Mädchen mit den Sterntalern nur mit einem unschuldig weißen Leibchen bekleidete verletzliche Wesen, mit blutigen sozialen Konflikten, einer tödlichen Pandemie und der Klimakrise konfrontiert. Letztere ist wie in einem Versuchslabor dargestellt; in einer Kuppel, die an Peter Weirs Film „Die Truman Show“ erinnert, werden spielende Kinder in einer Miniaturwelt durch ausströmende Industrie-Emissionen getötet.

Die Darstellungen sind unmittelbar und deutlich; die mit dem Blut eines Freiheitskämpfers beschmierte Peri gemahnt an die Hauptdarstellerin in Brian de Palmas Film „Carrie“ oder an Darstellungen des gegeißelten Christus. Das ist harte, aber ästhetisch sinntragende Kost. „O ihr Lebenstropfen, was seid ihr für die Tiefen der Ewigkeit!“, ruft die Peri aus, als sie nach der himmlischen Gabe fragt, die heilig genug sei, um ihr die Pforten Edens erneut zu öffnen. Sind diese Lebenstropfen das Blut, sind es Tränen? Die Antwort wird der Suchenden am Ende ihres Weges erteilt.

Jenseits der Inszenierung ist Schumanns Musik von wunderbarer Anmut, Vielfältigkeit und herrlichen Melodien geprägt. Da ist der Komponist tatsächlich über sich selbst hinausgewachsen; diese Musik übertrifft an Qualität und Einfallsreichtum die seiner Symphonien und auch des Klavierkonzerts. Das Libretto mag man partiell als für heutige Ohren zu hymnisch im Ton empfinden; aus seiner Zeit heraus aber, zumal als Nachdichtung, ist es kongenial, von höchster lyrischer Dichte und sprachlicher Schönheit. Aber eine moderne Inszenierung, wie diese mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Rainer Sellmaier, verträgt die „Peri“; die kann als rein statisches Oratorium auch langatmig und mühsam sein.
Was soll, muss, darf die Kunst heute leisten?
Tobias Kratzer verleiht der Botschaft, welche die Kunst in einer krisengeschüttelten Welt zu vermitteln vermag, eine neue Qualität, und vor allem arbeitet er mit ungewohnten Formen der Übermittlung. Er bricht die Schwelle zwischen Bühne und Zuschauerraum auf, spielt mit dem Raum.
Mit seinem Bayreuther „Tannhäuser“ hat das ja bereits fabelhaft funktioniert – man weiß oft nicht, was gerade wirklich oder nur in der Fiktion passiert, ist vor allem mitten im Geschehen, es entsteht eine unwiderstehliche Unmittelbarkeit. In seiner Hamburger „Peri“ bezieht er das Publikum durch die in den Zuschauerraum gerichtete Kamera mit ein, macht es zum Teil der Produktion. Man erkennt sich auf der Video-Projektionswand von Manuel Braun auf der Bühne, viele lachen und winken.
Als die Handlung ernst und hart wird, winkt kaum einer mehr; man ist konzentriert in das Bühnengeschehen versunken. „Die Bühne blickt zurück“, heißt es im Programmheft. Nietzsche-Kenner wissen, dass der Abgrund, in den man zu lange sieht, auch irgendwann in einen selbst zurückblickt. Da ist alles möglich, positiv, wie negativ.
Die empörte Buherin im ersten Teil, der schlafende Zuschauer im zweiten – das sind natürlich alles Inszenierungstricks, um in erweiterter Brecht-Manier das Publikum unmittelbar zu erreichen, am Theaterschlaf zu hindern und bestenfalls Farbe bekennen zu lassen. Man solidarisiert sich umso mehr mit der Hauptdarstellerin, zeigt Empathie.
Den Schläfer haben manche dann doch für echt gehalten, aber hier gilt es weiterzudenken: Was wäre, wenn der Mann nicht schliefe, sondern gerade stürbe? Würde sich jemand um ihn kümmern? Ebenjene Empathie der Peri gegenüber den Opfern von Gewalt und Krankheit oder die des alten Mannes ganz am Ende, der angesichts der kindlichen Unschuld bittere Tränen vergießt, steht im Zentrum von Kratzers Ansinnen, die Kunst nicht nur als betrachtetes Objekt, Handlung oder dergleichen wahrzunehmen; hier geht es um Interaktion, Teilnahme, ja Anteilnahme und Mitleid (wann sehen wir einen Parsifal von ihm?).
Manchen ist das allerdings zuviel, und ja, man hätte diese Blicke der gnadenlosen Kamera in Dauer und Frequenz reduzieren können; das hätte auch funktioniert. Es geht ja dann auch immer das Licht im Zuschauerraum an, was Teile des Publikums irritiert. Nicht jeder mag sich minutenlang schonungslos im Großformat abgebildet sehen, auch, wenn man sich zuvor über diesen besonderen Inszenierungseinfall informieren konnte. Das kann manchem in der Exponiertheit tatsächlich als unempathisch erscheinen. Hier gibt es Diskussionsbedarf und, wie man Kratzer kennt, wird er sich dem Diskurs sicher nicht entziehen wollen.

Ohne Fragezeichen: großartige Leistungen!
Abgesehen von allen überraschenden Aspekten der Inszenierung – die Übertragung in unsere Zeit gelingt einwandfrei. Für diejenigen, die in der Corona-Zeit ohne persönlichen Abschied geliebte Menschen loslassen mussten, war der zweite Teil sicher am eindrücklichsten. Auch die ironischen Brechungen, das Spiel mit dem Kitsch von Himmels- und Engelsdarstellungen aus dem 19. Jahrhundert, vor allem das Auflösen der himmlischen Verheißung als blanke Illusion der Hauptdarstellerin, all das schafft eine Distanz zur märchenhaften Handlung und zugleich die Nähe zu den Figuren als echte Menschen. Hier geht es um das wirkliche Leben – besser kann man das nicht in Szene setzen.

Allen voran ist Vera-Lotte Boecker als Peri gesanglich mit leuchtendem Sopran und spielerisch beeindruckend; sie ruft soghaft die beschriebene Empathie in denen hervor, die sie hören und sehen. Der Countertenor von Ivan Borodulin als Engel ist von großer Schönheit und Klarheit; der Peri ist er zwar zugewandt, aber bleibt stets souverän und konsequent.
Christopher Pohls verschiedene Bariton-Partien bleiben ebenfalls haften; er verkörpert Stärke und Virilität. Kai Kluge brilliert durch Präsenz und Menschlichkeit, sein Tenor ist leuchtend und durchdringend.
Alle anderen Solisten liefern sämtlich reife Leistungen ab und werden den jeweiligen Rollen auch in der theatralischen Umsetzung unbedingt gerecht. Der Chor der Hamburgischen Staatsoper unter der Leitung von Alice Meregaglia singt mit Kraft und makelloser Synchronizität.

Der neue Stern am Hamburger Musikhimmel, GMD Omer Meir Wellber, verleiht zusammen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg Schumanns Musik, je nach Stimmung und Handlungseinheit, einerseits zauberhaft zart, andererseits dynamisch mitreißend und erfrischend temporeich eine phantastische Lebendigkeit. Wie schön, dass er das ganze Orchester zum Beifall auf die Bühne holt. Aber wer ihn kennt, ist von dieser kollegialen Geste nicht überrascht.
Der Schlussapplaus ist begeistert, am Ende steht das Publikum. So etwas hat man in dieser Art noch nicht erlebt; man kann sich, ob hingerissen oder doch mit Fragezeichen, dieser Produktion nicht entziehen – und ist gespannt auf die nächste!
Dr. Andreas Ströbl, 16. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Robert Schumann, Das Paradies und die Peri Hamburgischen Staatsoper, 27. September 2025 Premiere
Robert Schumann, Das Paradies und die Peri Hamburgische Staatsoper, 27. September 2025, PREMIERE
Auf den Punkt 72: Tobias Kratzer auf dünnem Eis Hamburgische Staatsoper, 3. Oktober 2025