Foto © Claudia Höhne
Elbphilharmonie, 10. Oktober 2017
Arnold Schönberg Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34
Béla Bartók Tanzsuite in sechs Sätzen Sz 77
Igor Strawinsky Sinfonie in drei Sätzen
Peter Eötvös Multiversum (Uraufführung)
Royal Concertgebouw Orchestra
Iveta Apkalna Orgel
László Fassang Hammondorgel
Dirigent Peter Eötvös
von Leon Battran
Multiversum lautet der Titel von Peter Eötvös‘ kosmisch anmutendem Konzert für Orgel und Hammondorgel, das der Komponist und Dirigent nun in der Hamburger Elbphilharmonie zur Uraufführung gebracht hat. An der Hand: ein herausragendes Orchester und zwei hochkarätige Tastensolisten. Viel mehr als ein eigenartiges Gefühl zwischen Neugier und Befremden bleibt beim Zuhörer aber nicht von der Musik zurück.
Mit der Uraufführung von Multiversum, einem Ko-Auftragswerk der Elbphilharmonie, hat Peter Eötvös seine Hamburg-Residenz eröffnet. In der Elbphilharmonie leitet der Ungar außerdem am 17. November 2017 eine Aufführung von Hans Werner Henzes Skandaloratorium Das Floß der Medusa und tritt ferner beim Eröffnungskonzert des „Greatest Hits“- Festivals am 1. November 2017 auf Kampnagel auf den Plan. In seiner Doppelfunktion als Dirigent und Komponist ist der 73-Jährige ab dem 25. Februar 2018 mit Senza Sangue wieder in der Staatsoper Hamburg zu erleben.
Die erste Hälfte des Konzertabends füllen zunächst drei Klassiker der Moderne, die auch Peter Eötvös auf seinem musikalischen Weg begleitet und beeinflusst haben: Schönberg, Bartók und Stravinsky. Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene ist als eigenständige Musik ungeachtet einer filmischen Realisation konzipiert. Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe lautet das Programm der drei Sätze. Die Szene bleibt jedoch imaginär und spielt sich rein im Kopf des Zuhörers ab.
So erscheint diese Musik – trotz Zwölfton-Kompositionstechnik – letztendlich gar nicht so abstrakt, wie man bei Schönberg vielleicht vermuten möchte. Die Blechbläser klingen etwas schnarrender als gewöhnlich, die Flöten etwas schriller, etwas kantiger das Piano. Motivik und melodische Ausformung, die die Streicher mit stolzem Bogen fast schon pathetisch vortragen, sind dennoch erkennbar.
Was hier bereits eindrucksvoll zur Geltung kommt, ist die große Meisterschaft des Royal Concertgebouw Orchestras im Umgang mit Klangfarben. Das fein ausdifferenzierte Klangbild, seine nuancierte Auffächerung verblüfft und verzaubert das Ohr.
Dem Eindruck von Filmmusik kann man sich bei diesem Schönberg kaum erwehren. Und das Hauptthema klingt schon sehr nach der „Kammer des Schreckens“, dass man sich fragt, ob sich John Williams wohl hier hat inspirieren lassen, als er den Soundtrack für die Harry-Potter-Filme komponierte.
In Béla Bartóks Tanzsuite in sechs Sätzen konzentriert sich eine Vielfalt stilistischer Einfälle. Hämmernde Synkopen gepaart mit volkstümlicher Melodik in eigenwilliger harmonischer Ausfertigung prägen das Erscheinungsbild des ersten Satzes.
Peter Eötvös und das Royal Concertgebouw Orchestra vermögen abermals mit dem Zauber der Instrumentation zu begeistern, der dieser Komposition immanent scheint, und überzeugen mit einem abgerundeten, stellenweise edel erblühenden kontrollierten Klang. Beim Allegro vivace geht es besonders tänzerisch zu. Wenn ein Hauch von Zigeunerfest und nächtlicher Ausgelassenheit durch den Saal weht, kann man das Lagerfeuer knistern hören.
Auch in Igor Stravinskys Sinfonie in drei Sätzen hört man Filmmusik anklingen: wieder John Williams, diesmal Star Wars. Zudem treibende Rhythmen und Tonrepetitionen wie beim Le Sacre du printemps. Der zweite Satz hingegen überraschend lieblich: Begleitet von geschmeidigen Harfenklängen erwacht die große Terz zum bestimmenden melodischen Intervall. Das Orchester intoniert meisterlich und unnachahmlich. Da liegt Behutsamkeit und Bedeutsamkeit in jeder Note.
Peter Eötvös rechnet sich als Komponist keiner bestimmten Schule zu. In Multiversum setzt er sich mit der Idee von koexistierenden Universen innerhalb des Kosmos auseinander. Das Werk ist für eine einzigartige Besetzung geschrieben. An der Klais-Orgel der Elbphilharmonie agierte die Titularorganistin und Tastenkoryphäe Iveta Apkalna. Ihr ungarischer Kollege László Fassang unterstützte sie an der Hammondorgel.
Das Ergebnis ist eine sphärische Melange aus verschiedenen Orgelklängen und –spielarten. Auch eine Celesta ist wie Sternenglanz darin verwoben. Die zerklüftete abstrakte musikalische Welt von Eötvös‘ außerirdischer Eigenkomposition überbietet die zuvor gespielten Werke spielend an Fremdheit und Rätselhaftigkeit. Die musikalische Entwicklung, die Zeit an sich erscheint gedehnt – das Universum zu expandieren.
Allein die vielfältigen klanglichen Facetten, der tonale Grenzgang und das Überschreiten der Grenze des Bekannten machen eine Welt für sich aus. Ein Musikstück wie ein Linsen in andere Universen, wie ein Suchen – nach neuen Begriffen, vielleicht nach neuen ästhetischen Kategorien.
Und so sieht man viele Gäste gespannt lauschen, aber eben auch in einige etwas ratlose Gesichter. Manch einer fächert sich mit dem Programmheft Luft zu, während dort unten tief im Weltall Klangoperationen ablaufen, die durchaus spannend sind, aber irgendwie auch eine Zumutung. Trotzdem wird artig Beifall geklatscht und den Künstlern Respekt und Anerkennung erwiesen. Nach zwei Stunden Neuer Musik scheinen die Neugierde auf andere Welten und der Hunger nach musikalischer Innovation aber doch einigermaßen gestillt.
Leon Battran, 11. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.de