Foto: https://marieluisewerneburg.de
Berlin-Pankow, Theater im Delphi, 30. März 2023
RSB Kammerkonzert
Alfred Schnittke, Hymnoi I-IV, op. 96-99
Johann Sebastian Bach, „Ich habe genug“ – Kantate Nr. 82, Fassung für Sopran, Oboe, zwei Violinen, Viola und Basso continuo BWV 82a, und „Mein Herze schwimmt im Blut“ – Kantate Nr. 199 für Sopran, Oboe, zwei Violinen, Viola und Basso continuo BWV 199
Marie Luise Werneburg Sopran
Mariano Esteban Barco Oboe
Thomas Gkesios Fagott
Juliane Färber-Rambo Violine
Ania Bara Violine
Lucía Bell Viola
Peter Albrecht Violoncello
Marvin Wagner Kontrabass
Jakob Eschenburg Pauke
Tobias Hegele Glocken
Maud Edenwald Harfe
Arno Schneider Cembalo und Orgel
von Sandra Grohmann
„Sünde, Reue, Tod“, stellt meine Begleiterin in einem absteigenden Dreiklang fest.
„Tatort“, kommentiert ihr Mann.
Wir sitzen im Theater im Delphi, Berlin-Pankow. Ohne meinen Freund Uli wären wir vielleicht nicht hier. Zwei Bach-Kantaten, gesungen von der engelsgleichen Marie-Luise Werneburg, bilden den Mittelpunkt des vom Rundfunk Sinfonieorchester Berlin (RSB) präsentierten Programms. Uli ist großer Fan von Marie-Luise Werneburg, weilt aber im fernen Brasilien. Wir vertreten ihn quasi, und so gesehen könnte er gern noch etwas länger in Brasilien bleiben und wir hörten uns noch ein wenig mehr Bach an, wozu wir als alte Romantiker sonst zwar immer mal wieder, aber nicht sehr regelmäßig neigen.
Wobei – so ganz barock geht es heute nicht zu. Der Abend startet mit dem Hymnus I von Alfred Schnittke. Pauken, Cello und Harfe bilden sowohl ein reizvolles Trio als auch Klänge, die man so nicht erwartet. Die Saiteninstrumente treten zunächst in einen pizzicato-Dialog ein, die Pauken steuern immer mehr den Groove bei, in den das Cello nach einer Weile gestrichen einstimmt, während die Pauken (mehr noch in dem das Konzert abschließenden Hymnus IV) beginnen, im Glissando Melodien zu singen, und die Harfe mit dem Klang einer Gitarre Akzente setzt. Schließlich enden die drei wieder in einem ganz ruhigen, tranceähnlichen Zustand. Ein bisschen zieht das voran und in den Bann wie eine Kamelkarawane in der Wüste. Also so, wie ich mir eine solche Karawane vorstelle. Dieses gemeinsame Schwingen ist wohl das Zaubermittel des Zusammenspiels, das nahezu ohne Blickkontakt gleichsam wie von unsichtbarer Hand geführt scheint.
Nachdem die Schnittke-Combo die rechte Seite der Bühne geräumt hat – einer Bühne, die aus der Serie Babylon Berlin einem weiten Publikum bekannt sein dürfte („Zu Asche, zu Staub“) –, taucht der Cellist auf der linken Seite als Teil der Barockbesetzung wieder auf. Ein wenig schade ist es, dass alle – auch der Oboist Mariano Esteban Barco und Marie-Luise Werneburg – dezent hinter Notenpulten verschanzt sind. Es kann in live dargebotenen Bachkantaten reizvoll sein, wenn die sich miteinander unterhaltenden, manchmal auch sich umgarnenden Stimmen der Oboe und des Soprans in unmittelbarer Nähe zueinander Spannung aufbauen. Doch hier bleibt es ganz ätherisch und Werneburgs himmlischer, ganz reiner und zugleich weicher Sopran fliegt spielend über die Pultmauer hinweg mit der ersten Kantate des Abends, „Ich habe genug“. Die Streicher begleiten hochkonzentriert und nun immer Blickkontakt haltend. Da sprechen die Musik und die Augen miteinander, und das Publikum hält mucksmäuschenstill den Atem an.
Gefolgt wird dies, obwohl wir keineswegs genug haben, von Schnittkes Hymnus II, diesmal in einer Besetzung für Cello und Kontrabass und noch verinnerlichter als der Hymnus I. Er leitet zugleich die Pause ein. Wir bleiben an unserem Tisch – denn so ist das im Theater im Delphi: Hinten die Theke und vorne die Bühne und dazwischen nicht nur Stühle, sondern richtige Esstische. Man möchte denken, dass das nicht funktionieren kann. Aber damit würde man die Musikstadt Berlin verkennen, der das Zuhören entgegen gängigen Klischees tief in ihre DNA eingeschrieben ist. Obwohl die Gläser, Erdnüsse und Bierflaschen (!) während des ganzen Konzerts vor den Leuten stehen, benimmt sich niemand daneben. Kein Klappern, kein Rascheln, kein Knuspern. Bis zur Pause. Dann freundliche und lustige Gespräche mit den Tischnachbarn: Ach, das sind die Erlebnisse, für die ich meine Heimatstadt liebe!
Auch ich habe mich – mit leerem Magen angekommen – bis zur Pause zurückgehalten und greife dann erst zu den Erdnüssen, die meine Begleiter umsichtigerweise besorgt haben. Der darauf folgende Hustenanfall und das wiederum dadurch provozierte Nasenbluten sorgen für ironische Kommentare und damit für einen unerwartet heiteren und natürlich völlig unangemessenen Übergang zum zweiten Teil des Programms, dessen Mittelpunkt die Kantate „Mein Herze schwimmt im Blut“ bildet. Gerahmt von Schnittkes Hymnoi III – Fagott, Cembalo und Pauken – und IV – in voller Besetzung mit Cello, Kontrabass, Fagott, Harfe, Cembalo, Pauke und Glocken und im Gegensatz zu den vorangegangenen Stücken durchaus schmissig –, schließt dieses ungewöhnliche und doch stimmige Konzertprogramm zur Freude und zum Jubel der Zuhörer. Davon kann man nicht genug kriegen. Aus dem Publikum bleiben manche noch bei einem Glas Wein sitzen, die Musiker sammeln sich vor der Bar, die Instrumente werden verpackt – nein, danke, für die Pauke wird keine Hilfe benötigt –, wir stecken noch einige Postkarten und Aufkleber des RSB ein. Keine Asche, kein Staub, sondern ein großer Glücksmoment in der Passionszeit.
Sandra Grohmann, 3. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Funkkonzert, Musik von Weill, Hindemith, Eisler und Schnittke Haus des Rundfunks, 2. März 2023
Johann Sebastian Bach, Kantaten, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal, 25. Februar 2022
Meine Lieblingsmusik, Teil 14: Johann Sebastian Bach, Kantaten klassik-begeistert.de