Musikfest Berlin: „Erbaulich“ soll und darf es nicht werden

RSO BERLIN Vladimir Jurowski  Konzerthaus Berlin, , 11. September 2025

Foto: Pierre-Laurent Aimard © Julia Wessely

Vladimir Jurowski dirigiert eindrucksvoll Schostakowitschs Elfte und setzt vorweg drei selten gespielte Werke aufs Programm.

Pierre-Laurent Aimard, Klavier
Omar Ebrahim, Sprecher
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Vladimir Jurowski, Dirigent

Bohuslav Martinů (1890-1959) – Památník Lidicím (Mahnmal für Lidice)
Josef Suk (1874-1935) – Meditation über den altböhmischen Choral «Svatý Václave» für Streichorchester op. 35a
Arnold Schönberg (1874-1951) – Ode to Napoleon Buonaparte
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975)Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 („Das Jahr 1905“)

Konzerthaus Berlin, , 11. September 2025

von Dr. Brian Cooper

“Musikalisches Aufbegehren gegen Unrecht und Gewalt im 20. Jahrhundert – das ist das Programm des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin im Konzerthaus am heutigen 11. September 2025. Weil nach Ansicht von Chefdirigent Vladimir Jurowski an diesem besonderen Tag im 80. Jahr seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und just 24 Jahre nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York nicht einfach ein erbauliches Konzert erklingen darf.“

So Steffen Georgi im Programmheft zu diesem Musikfest-Konzert im Berliner Konzerthaus, der den Chefdirigenten des RSO im Rahmen der Konzerteinführung auch interviewt. Und Jurowski hat wie immer Kluges zu sagen. Zu Schostakowitschs 11. Sinfonie etwa: „Die Musik ist zwar tonal, aber sie tut weh.“ Es gebe derzeit „kein aktuelleres Stück als die Elfte.“

Tatsächlich müssen einem die Tränen kommen, wenn man diese Musik, dieses Massaker von Sinfonie, diese Threnodie, hört – gerade, wenn sie so fabelhaft gespielt wird wie an diesem Abend. Autokraten, Gewaltherrscher, Faschisten, Gewalttäter und -befehlshaber, Auftragsmörder, vermeintlich demokratisch gewählte Machthaber – und schließlich Demokraten, die durch Gewalt gestürzt werden: Es ist ernüchternd, beim Hören dieser Musik festzustellen, dass sich nichts geändert hat und auch niemals ändern wird.

Der Mensch ist, was er ist. Sicher, der eine oder andere Krieg wird beendet werden; dafür beginnen aber drei neue. Und was den 11. September angeht, sollten wir nicht immer nur von New York 2001 sprechen, sondern auch von Santiago de Chile 1973. Auch das war ein Akt der Gewalt, im Hintergrund gesteuert und inszeniert von der angeblich besten Demokratie der Welt.

Bohuslav Martinůs Mahnmal für Lidice, zum Gedenken an die Opfer des Nazi-Massakers von Lidice (10. Juni 1942) komponiert, ist an diesem Abend die erste Visitenkarte des Orchesters. Der Klang im Saal ist prima, das Orchester vom ersten Takt an da: gravitätisch klingt das, würdevoll, klangschön. Die Musik ist durchaus tonal, Jurowski pflegt – das merkt man sofort – eine bemerkenswerte Klangkultur.

Josef Suks Meditation über den St.-Wenzel-Choral ist für Streichorchester besetzt, das zu Beginn sordiniert spielt. Es soll zurückhaltend klingen, steigert sich aber schließlich zu dichtestem Klang, der von den Streichern des RSO so vortrefflich erzeugt wird, dass man gleich danach noch Janáčeks Streichersuite hören möchte.

Nach dem Werk huscht ein Mann mit „Pardon“-Ausdruck in klugem Gesicht an mir in meiner fast leeren Reihe vorbei (Das Konzerthaus ist leider nur zu etwa drei Vierteln besetzt.) Mir wird klar, als er schon weg ist, dass es sich um Pierre-Laurent Aimard handelt, der ungefähr anderthalb Minuten später auf die Bühne gehen wird. Was für eine – verzeihen Sie den Ausdruck – coole Socke, sich vorher noch in der ersten Galerie die beiden ersten Werke anzuhören.

Aimard ist Spezialist für die Moderne, und für Schönbergs Napoleon-Ode kann man sich keinen besseren Pianisten wünschen. Im Verbund mit dem Streichorchester und Erzähler Omar Ebrahim, dessen ausdrucksstarke Baritonstimme gut über Streichern und Klavier zu hören ist, gestaltet der Pianist seinen Part höchst expressiv und aufmerksam, mit viel Blickkontakt zum Dirigenten. Das viertelstündige Werk basiert auf einem Text von Byron, der im Hitler-Kontext, in dem Schönberg es schrieb, wie eine Anklage wirkt. Ebrahims Stimme vermittelt genau diesen Tonfall.

Vladimir Jurowski, Foto: © Wilfried Hösl

Eine beeindruckende erste Hälfte ist damit beendet. Dem Gespür Vladimir Jurowskis für Neues, Unbekanntes, verdankt sein Publikum neue Impulse und Begegnungen mit (zumindest den Klassikaffinen) bekannten Namen. Einige dürften ihre Scheu vor dem hier manchmal sogar tänzerischen Schönberg verloren haben, dessen Ein Überlebender aus Warschau auch gut in dieses Programm gepasst hätte. Aber dann hätten wir nicht Aimards hinreißendes Klavierspiel erlebt. Und Aimard tat das, was er schon in Cibouregetan hatte: Er gab seinem Umblätterer die Hand. Sympathisch.

Jurowski führt in Schostakowitschs 11. plastisch vor Augen, was das Programm der Sinfonie, die „keine Filmmusik sein darf“, darstellt. Er bekommt vom ersten Takt an den Klang, den er will. Dank seiner klaren Gestik. Dabei spielen die Streicher – mit neun Bässen! – ungemein homogen, es ist durchweg eine Weltklasseleistung an diesem Abend. Jurowski setzt das grandiose Blech obendrauf – es klingt für mich bisweilen, wie zum ersten Mal gehört.

Das ganze Orchester wächst über sich hinaus, es ist eine mitreißende und packende Darbietung: die Harfen schon im ersten Takt; die Trompeten; die Pauke, die von Anbeginn Bedrohliches ankündigt; das Schlagwerk; das Holz; das gesamte Orchester. Diese Musik oszilliert zwischen Zartheit (das schön gespielte Bratschenthema etwa, ein russisches Liedzitat) und roher Gewalt; besonders erschütternd wirkt sie, wenn der Gewalt urplötzlich Stille folgt, wie im dritten Satz und ganz zum Schluss.

Jurowski sprach in der Einführung über diesen Schluss – wie er abreißt, und wie Schostakowitsch zwischen Dur und Moll schwankt, aber letztlich nur auf dem G verharrt, das keinerlei Tonalität aufweist. Das Schwanken zwischen Dur und Moll hob Jurowski dann im Konzert ganz extrem in den Glocken hervor, was eine starke Wirkung hatte.

Die Musik reißt ab und benötigt Stille, um ihre Wirkung zu entfalten. Stille war den gesamten Abend über im Publikum zu erleben. Und das war, nach vielen Enttäuschungen der letzten Zeit, eine Wohltat.

Dr. Brian Cooper, 12. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Young Euro Classic 2025 1. bis 17. August 2025, Konzerthaus Berlin

Musikfest Berlin, Rundfunk Sinfonieorchester Berlin Vladimir Jurowski,  Dirigent Philharmonie Berlin, 13. September 2022

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Vladimir Jurowski, Konzerthaus Berlin, 26. Februar 2022

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