Zur Ausstellung „Arnold Schönberg & Karl Kraus“ im Arnold Schönberg Center, Wien © Arnold Schönberg Center, Wien © Hertha Hurnaus.
Es ist merkwürdig und bezeichnend, dass die österreiche Decadence im gleichen Jahre 1874 diese beiden Männer hervorgebracht hat, die bestimmt sind, in zahllosen Generationen eine wahrhaft heilsame und für die europäische Kultur entscheidende Unruhe hervorzurufen. (Ernst Krenek, 1934)
Jubiläumsausstellung anlässlich der 150. Geburtstage von Arnold Schönberg & Karl Kraus
17. Januar – 10. Mai 2024
von Dr. Rudi Frühwirth
Anmerkung: Das Sigel F steht für „Die Fackel“. Das Sigel M bezeichnet das Buch von Therese Muxeneder zur Ausstellung, ISBN 978-3-902012-30-2.
Ich verfolge weiter die Spuren von Arnold Schönberg in der „Fackel“. Heft 366-367, erschienen im Jänner 1913, zeigt auf der hinteren Umschlagseite ein Aufruf zur finanziellen Unterstützung der Dichterin Else Lasker-Schüler, deren Gedichte Kraus überaus schätzt. Eines davon wird in der „Fackel“ zum ersten Mal gedruckt (F 313-314, S. 36, Dezember 1910).
Unterzeichner sind neben dem Herausgeber unter anderem Richard Dehmel, Selma Lagerlöf, Adolf Loos und Arnold Schönberg. Übrigens hat Kraus bereits 1906 Gedichte von „Maria Heim“ zum ersten Mal veröffentlicht (F 202, S. 23, April 1906). Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich niemand anderer als Marie Pappenheim, die spätere Verfasserin des Text zu Schönbergs Melodram „Erwartung“. Schönberg war durch die „Fackel“ auf sie aufmerksam geworden.
Am 31. März 1913 findet im Wiener Musikverein das berühmt-berüchtigte „Skandalkonzert“ statt, in dessen Verlauf es zu Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern und Gegnern Schönbergs kommt, was den Abbruch des Konzerts zur Folge hat. Im Mai 1913 schreibt Kraus über das Konzert (F 374-375, S. 24, Mai 1913):
Von Musik verstehe ich nichts; von Literatur einiges; vom akademischen Verband für Literatur und Musik alles. Wenn er sich für einen neuen Künstler einsetzt, so ist das kein Beweis gegen diesen. Den Widerstand gegen einen neuen Künstler halte ich noch weniger dafür. Aber ich glaube, daß der »Schönberg-Skandal« nichts mit der Frage zu tun hat, wie man sich zur neuen Musik stellt, sondern nur mit der Frage, wie man sich während einer Produktion, die einem mißfällt, in Gegenwart anderer Leute zu benehmen hat, die ihr Urteil erst nach der Produktion abzugeben wünschen. […] Nach dem »Schönberg-Skandal« haben die Skandalmacher die Referate geschrieben. Damit ist die Wiener Presse unter das Niveau gesunken, das ihr die Verachtung so lange schon anweist.
Kraus hat Schönberg offensichtlich als Mensch hoch geschätzt; sein musikalisches Schaffen liegt außerhalb der Sphäre des Herausgebers der „Fackel“. Gleiches trifft auch auf Gustav Mahler als Operndirektor und Dirigenten zu. Kraus verteidigt ihn in der „Fackel“ gegen missgünstige Journalisten und antisemitische Flegeleien; über sein symphonisches Schaffen verliert er kaum ein Wort. In einem Artikel über Oscar Wilde’s „Salome“ in Heft 227-228 der „Fackel“ kommt Kraus auch auf die Oper von Richard Strauss zu sprechen (F 227-228, S.3, Juni 1907):
Und mag die Vertonung — ich kenne sie nicht und verstünde sie nicht — noch so bedeutend sein, für mein Gefühl bleibt Salome im Incest blutsverwandter Künste geschändet.
Einen tieferen Einblick in Kraus’ Musikverständnis gibt der Essay „Grimassen über Kultur und Bühne“ aus dem Jahr 1909. Der Ausgangspunkt ist, wie so oft bei Kraus, ein belangloser Artikel eines unbedeutenden Journalisten. Scheinbar mühelos gelangt er von hier zu einer lesenswerten Abhandlung über die Ästhetik der Operette und seine Sicht der Musik (F 270-271, S. 8, Jänner 1909):
Die Funktion der Musik: den Krampf des Lebens zu lösen, dem Verstand Erholung zu schaffen und die gedankliche Tätigkeit entspannend wieder anzuregen. Diese Funktion mit der Bühnenwirkung verschmolzen, ergibt die Operette, und sie hat sich mit dem Theatralischen ausschließlich in dieser Kunstform vertragen. […] Daß Operettenverschwörer singen, ist selbstverständlich, aber die Opernverschwörer meinen es ernst und schädigen den Ernst ihres Vorhabens durch die Unmotiviertheit ihres Gesanges. Wenn nun der Gesang der Operettenverschwörer zugleich den Gesang der Opernverschwörer parodiert, so ergibt sich jene doppelwendige Vollkommenheit der Theaterwirkung, die den Werken Offenbachs ihren unvergänglichen Charme verleiht…
Die Liebe zu Offenbach hat Kraus bis an sein Lebensende begleitet, und die unbekannteren Operetten Offenbachs hat er in zahlreichen Vorlesungen mit Klavierbegleitung wieder zum Leben erweckt. Ein beredtes Zeugnis der theatralisch-musikalischen Wirkung, die er damit erzielt hat, ist der Dankesbrief von Eduard Steuermann, dem bedeutendsten Pianisten des Schönberg-Kreises (F 811-819, S. 91, August 1929).
Der oben erwähnte Ludwig Karpath wird noch einmal, diesmal gemeinsam mit Richard Strauss, satirisch betrachtet, und zwar in dem absolut köstlichen Artikel „Seeigeleies“ (F 668-675, S. 127, Dezember 1924). Kraus kommt hier auf Strauss’ Oper „Intermezzo“ zu sprechen, deren Libretto eine gewisse Banalität, ja Peinlichkeit nicht verleugnen kann. Er kritisiert und ironisiert aber lediglich den vom Komponisten selbst verfassten Text, sowie die Umstände seiner Entstehung. Über die Musik hat er nichts zu sagen.
Im Begleitbuch zur Ausstellung wird vermutet, dass Kraus’ bemerkenswerte Vortragskunst einen Einfluss auf die Gestaltung der Sprechstimme in Schönbergs „Pierrot Lunaire“ hatte (M 188). Ein interessanter Gedanke, der allerdings die Frage, was nun Schönberg tatsächlich von Kraus gelernt hat, wohl nicht erschöpfend beantwortet. Ich denke, dass Schönberg sich in seiner Aussage auch auf das unbeugsame Ethos und die unbestechliche Kultur- und Pressekritik des Herausgebers der „Fackel“ bezieht.
Ab Heft 338, erschienen im Dezember 1911, schreibt Kraus die „Fackel“ alleine. Schönberg verlässt im selben Jahr nach antisemitischen Attacken Wien und zieht nach Berlin. Kraus hat schon früher mit dem selben Gedanken gespielt, ihn aber wieder verworfen, und zwar mit dem ihm eigentümlichen, unvergleichlichen Pathos in dem Artikel „Apokalypse“ (F 261-262, S. 1, Oktober 1908):
Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«
Der große Tag des Zornes kommt schon nach wenigen Jahren mit dem Weltkrieg, in dem Kraus über sich hinauswächst. In hundert Nummern der „Fackel“ und in seinem opus magnum „Die letzten Tage der Menschheit“ ist seine Anklage gegen kriegshetzende Literaten und Journalisten, gegen Schieber und Kriegsgewinnler, gegen die Grausamkeit der Front und die Leiden der Zivilbevölkerung für alle Zeiten aufbewahrt. Leider vergeblich, denn Kraus hat auch mit dieser, schon während des Krieges ausgesprochenen Prophezeiung recht behalten (F 445-453, S. 2, Jänner 1917):
Der Menschheit wird die Kugel bei einem Ohr hinein und beim andern herausgegangen sein.
Schönberg wird 1915 eingezogen, freigestellt und wieder eingezogen. Er leistet seinen Dienst in einer Militärkapelle. Eine klare Aussage gegen den Krieg kann er sich als Angehöriger der Armee nicht erlauben. Im Herbst 1916 schreibt er an Kraus (M 92, Brief 22):
[…] Hoffentlich finde ich bald Gelegenheit, Sie im Kaffeehaus zu treffen. Ich dürste … nach einer Aussprache mit Ihnen. In der Zeit unerträglicher Depressionen, seit Kriegsbeginn, war mir Ihr Wort oft ein Trost. […]
Nach dem Krieg verlässt Schönberg Berlin und lässt sich in Mödling bei Wien nieder. Er beginnt eine rege Lehrtätigkeit; zu seinen Schülern zählen unter anderen Hanns Eisler und Rudolf Kolisch. Hier entstehen auch die ersten Werke gemäß der Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen. Im Jahr 1925 wird Schönberg als Professor an die Preußische Akademie der Künste in Berlin berufen; er tritt die Stelle Anfang 1926 an.
Das Kriegsende bedeutet für Kraus einen Einschnitt, der sein Leben und sein Werk radikal verändert. In seiner Biographie „Karl Kraus oder die Macht der Ohnmacht“ (dtv 816, München 1972) schreibt Hans Weigel:
Karl Kraus müßte, wenn seine Arbeit im Weltkrieg und am Weltkrieg zu Ende ist, Präsident der Republik werden oder sterben.
Nun, Kraus stirbt noch nicht, wird aber auch nicht Präsident der Republik Österreich. Er verstrickt sich in literarische und auch juristische Fehden mit Schriftstellern, die – wie zum Beispiel Alfred Kerr – noch vor wenigen Jahren zum Krieg gehetzt haben und jetzt plötzlich Pazifisten geworden sind. Er ist antisemitischen Angriffen von Monarchisten, Militaristen und anderen Unbelehrbaren ausgesetzt. Seine Verteidigung läuft ins Leere. Immerhin hat er einen großen publizistischen Erfolg zu verzeichnen: die Vertreibung eines Journalisten aus Wien, der die Erpressung zu seinem täglichen Handwerk gemacht hat. Die Feder und das gesprochene Wort siegen über Lüge und Schmutz. Der Kampf gegen Imre Békessy ist in den Jahrgängen der „Fackel“ von 1924 bis 1926 dokumentiert.
Dennoch sind die Nachkriegshefte der „Fackel“ durch eine gewisse Ratlosigkeit gekennzeichnet. Die Texte, die sich durch unvergleichliche, stetig anwachsende „semantische Dichte“ – so ein heutiger Literaturwissenschafter – auszeichnen, werden immer schwieriger zu entschlüsseln. Wachsende semantische Dichte kann man auch in der Entwicklung kompositorischer Techniken beobachten. Es scheint mir offensichtlich, dass der letzte Satz von Mozarts letzter Symphonie eine unvergleichlich höhere semantische Dichte hat als ein Satz aus einer frühen Symphonie. Ein anderes, hier naheliegendes Beispiel ist Arnold Schönberg, dessen Zwölftontechnik eine hohe semantische Dichte geradezu verlangt, da jeder Ton in einem Netz von Beziehungen zu den anderen elf Töne gefangen ist. Man vergleiche nur die orchestralen Ausschweifungen der „Gurrelieder“ mit der Strenge der „Variationen für Orchester“. Der Endpunkt dieser Verdichtung scheint mir in den Kompositionen Anton Weberns erreicht; darüber hinaus ist nur mehr Stille möglich. John Cage hat das 1952, bald nach Schönbergs Tod, mit seinem Stück 4‘33‘‘ buchstäblich vorgeführt.
Nach dem Blutbad, das die Polizei beim Brand des Wiener Justizpalastes im Jahr 1927 anrichtet, beginnt Kraus eine Kampagne gegen den Polizeipräsidenten Johann Schober. Diesmal scheitert er. Er findet Trost in Vorlesungen mit Offenbach und Nestroy und betreibt Sprachlehre in der „Fackel“. Sein Kontakt zu Schönberg beschränkt sich auf das gelegentliche Schreiben von Glückwünschen. Dennoch bleiben Verbindungen in Wien bestehen: Anton Webern vertont zwei Gedichte von Kraus, und Alban Berg bringt die oben erwähnte Huldigung zum 60. Geburtstag dar.
Der Nationalsozialismus dämmert herauf, und 1933 übernimmt Hitler die Macht. Schönberg verliert seine Professur in Berlin und muss emigrieren. Nach einem letzten Abschiedsbesuch in Wien verlässt er Europa endgültig und findet in Kalifornien eine neue Heimat. Kraus bleibt in Wien, er muss bleiben. Wie könnte er, dessen Heimat die deutsche Sprache ist, im fremdsprachigen Ausland Zuflucht finden?
Kraus’ Vereinsamung schreitet fort. Am 23. August 1933 stirbt Adolf Loos, Kraus hält die Grabrede. Webern unterrichtet Schönberg brieflich davon (M 281). Im Oktober 1933 findet in Wien eine Gedenkfeier mit Werken von Webern und Schönberg statt. In diesem Oktober erscheint auch Heft 888 der „Fackel“. Es enthält auf nur vier Seiten die Grabrede und das erschütternde Gedicht „Man frage nicht“ (F 888, S. 4, Oktober 1933):
„O Wort, du Wort, das mir fehlt!“, lässt Schönberg sein alter ego Moses in der Oper „Moses und Aron“ am Ende des zweiten Akts verzweifelt ausrufen. Immerhin hat Schönberg die Musik; Kraus hat nur das Wort. Er verstummt bis zum Juli 1934. In diesem Monat erscheinen gleich zwei Ausgaben der „Fackel“. In Heft 889 zitiert er ironisch „Nachrufe auf Karl Kraus“, in Heft 890-905 erklärt er endlich auf mehr als dreihundert Seiten „Warum die Fackel nicht erscheint“. Das Heft enthält Zitate und Auszüge aus der „Dritten Walpurgisnacht“, die die zahllosen Gräuel unter dem Hakenkreuz dokumentarisch festhält. Kraus verweigert die Veröffentlichung, sodass das Werk erst 1952 im Druck erscheint.
Auch Arnold Schönberg ist sich längst über die mörderischen Pläne Hitlers im Klaren. Er legt im Jahr 1938 sein Manifest „A Four-Point Program for Jewry“ vor, ein Aktionsprogramm zur Errichtung eines jüdischen Staates, mit dem er die einzige Möglichkeit sieht, den Genozid noch abzuwenden. Das Manifest verhallt ungehört.
Im Februar 1936 erscheint das letzte Heft der „Fackel“. Am 2. April hält Kraus seine 700. und letzte Vorlesung; er liest aus eigenen und anderen Werken. Am 12. Juni 1936 stirbt er. Webern unterrichtet Schönberg in einem Brief davon (M 288). Sein allzu früher Tod erspart Kraus das Schicksal von dreien seiner Geschwister, die später von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet werden.
Im Jahr 1950 publiziert Schönberg die Essay-Sammlung „Style and Idea“ und setzt ihr die folgende Widmung voran, hier in deutscher Übersetzung (M 291):
Arnold Schönberg stirbt am 13. Juli 1951 in Los Angeles. Seine Urne und die seiner Frau werden 1974 nach Wien überstellt und in einem Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt, in unmittelbarer Nähe zur letzten Ruhestätte von Karl Kraus. Die Totenmasken der beiden bedeutenden Künstler und großen Menschen sind am Beginn der Ausstellung in einer Vitrine vereint.
Die Ausstellung im Arnold Schönberg Center ist bis zum 10. Mai 2024 geöffnet. Das Begleitbuch zur Ausstellung von Therese Muxeneder enthält zahlreiches bisher unveröffentlichtes oder nicht leicht zugängliches Material.
Ich empfehle es dringend allen Interessierten!
Dr. Rudi Frühwirth, 7. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Erhältlich im Arnold Schönberg Center oder bei Amazon:
https://www.amazon.de/Arnold-Schönberg-Kraus-Veröffentlichungen-Center/dp/3967079198/
Die frei zugängliche Online-Ausgabe der „Fackel“ ist auf https://fackel.oeaw.ac.at zu finden. Aus ihr stammen alle Zitate sowie das Faksimile.
Das Eingangszitat von Ernst Krenek ist dem Begleitbuch entnommen (M 27).