„Götterdämmerung“, Richard Wagner,
Wiener Staatsoper, 8. Juni 2015
Des einen Freud ist des anderen Leid. Des Volkes Wort zeigt sich auch in der Wiener Staatsoper. Hier skandiert der Liebhaber schönen Gesanges „Bravo“ und „Bravi“, wenn ihm die Darbietung seines Eleven berührt hat. Und hier ist auch ein „Buh“ zu hören, wenn der Zuschauer und -hörer nicht d’accord geht mit dem, was auf der Bühne passiert.
Dass das Wiener Publikum mehr Zustimmungs- und Missfallensbekundungen parat hat als die zwei „B“-Wörter, zeigte jetzt ein intensives Finale von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“: Die „Götterdämmerung“. Draußen ein heißer Sommertag, 40 Grad in der Sonne. Drinnen angenehme 22 Grad und ein höchst konzentriertes Publikum, das des Ringes vierten Teil herbeisehnt. Am Pult steht der Engländer Sir Simon Rattle; die Queen hat ihn in den Adelsstand berufen. Das Staatsopernorchester folgt seinen Instruktionen minutiös, die Sänger agieren auf Weltniveau, allen voran Evelyn Herlitzius als Brünnhilde und Falk Struckmann als Hagen.
Der Dank des Publikums funkelt vor dem dritten Aufzug auf. Sir Simon wird mit minutenlangen, wuchtig-freudigen Bravo- und Bravi-Rufen empfangen. Allein, eine einzige Menschenseele in der Galerie sieht die Welt anders an diesem Tag. Gerade als der Engländer den Taktstock für den dritten Aufzug hebt, ruft sie mitten hinein in die Stille lauthals „Buh!“ Das kann die Masse nicht auf sich sitzen lassen. Sie ermuntert Sir Simon und seine Frauen und Männern mit heftigem Beifall. Der Engländer lässt die Musiker noch einmal aufstehen. Doch eine weitere Menschenseele in einer Loge ist nach mittlerweile fast 14 Stunden Wagner derart angefressen, dass ihr ein lautes „Arschloch, blödes!“ in Richtung des Buh-Manns aus dem Munde rutscht. Jeder im Saal hört es.
Das sitzt. Der des Deutschen mächtige Sir Simon, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, bittet das Orchester toute suite zur Arbeit. Auch die Herren an den Hörnern scheinen den Disput im Auditorium mitbekommen zu haben. Ihr Einstieg zum dritten Aufzug wackelt mächtig – ein Raunen geht durch das hohe Haus. Wird Sir Simon abwinken ob dieses Missgeschickes?
No, Sir, es geht weiter, Siegfried stirbt, und als nach 15 Stunden Walhall in Flammen aufgeht und das Göttergeschlecht untergeht, bedanken die 2100 Zuschauer sich selbst und die Musiker mit frenetischen Bravo- und Bravi-Rufen. Erst nach 20 Minuten dürfen Sir Simon und die Protagonisten zum gemütlichen Teil des Abends übergehen.
Der Buh-Mann von Wien wird seine Gründe gehabt haben, seine Unbill kundzutun. Die große Mehrheit indes war glücklich und beseelt. Manche haben Kontinente überquert, um dem „Ring“ am Ring beizuwohnen. Hunderte haben sich stundenlang die Beine in den Bauch gestanden, um Stehplatzkarten zu ergattern. Den Buh-Mann und das „Arschloch“ von Wien werden sie nie vergessen. Worte sind mehr als Schall und Rauch.
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Andreas Schmidt, 9. Juni 2015