Foto: Gustave Ouvière – www.gallica.bnf.fr, Domaine public
Sein Name ist heute fast vergessen, obwohl er der Komponist einer der, lange Zeit, bekanntesten und beliebtesten französischen Melodien war. Die Rede ist von Ange Flégier und seinem größten musikalischen Erfolg “Le cor” (Das Horn). Bis in die frühen sechziger Jahre gehörte diese Melodie zum Standardrepertoire eines jeden großen Bassisten, von Paul Plançon bis Adrien Legros bei den Franzosen, von Fjodor Schaljapin bis Ezio Pinza bei den Nicht-Franzosen.
von Jean-Nico Schambourg
Ange Flégier, geboren am 25. Februar 1846 in Marseille, war nicht nur Komponist, sondern auch Pianist, Musikkritiker, Maler und Poet. Aus einer Arbeiterfamilie stammend, wurde Flégier 1866 am Konservatorium in Paris aufgenommen, wo er bei Ambroise Thomas Komposition studierte. 1869 bewarb er sich dort mit seiner Kantate “Francesca da Rimini” am großen Kompositionswettbewerb, dem “Prix de Rome”, und wurde Dritter unter den sechs Finalisten.
Ab 1870 arbeitete er als Musikkritiker für die Tageszeitung “Le Petit Marseillais”. Später, von 1877 bis 1884, übte er diese Tätigkeit für “Le Journal de Marseille” aus. Er veröffentlichte erste Werke, zunächst bei kleinen Verlagen. Erst mit dem Erfolg 1881 seiner Melodie “Le Cor“ konnte er von seiner Musik leben.
Als Komponist war Flégier sehr fleißig: sein Werk umfasst etwa 350 Einträge, darunter viel Klaviermusik (u.a. ein Konzert F-Dur für Klavier und Orchester von 1900), etwa 120 Melodien, das Ossian-Oratorium (Marseille, 1885) und insbesondere Kammermusik. Diese Werke zeichnen sich oft aus durch ungewöhnliche Besetzungen: Trio für Oboe, Klarinette und Fagott (1896), Quartett für zwei Oboen und zwei Fagotte. Ein Dezett für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn – und Streichquintett entstand 1898 und galt laut Larousse als das erste seiner Art. Das französische Wort “dixtuor” wurde sogar speziell von Flégier für diesen Anlass erfunden.
An der Oper in Marseille wurde “Fatma” uraufgeführt, seine einzige Opéra-Comique in einem Akt. Die Pariser Musikzeitschrift “Le Ménestrel” berichtete in ihrer Ausgabe vom 9. Mai 1875 vom großen Erfolg der Aufführung: “Die ganze Kunstwelt von Marseille wohnte diesem Abend bei, der sich in eine musikalische Feier wandelte und mit einer Ovation für den jungen Musiker endete.”
Ebenfalls an der Opéra in Marseille wurde am 11. Januar 1919 seine “Grognards et Poilus” (Bezeichnung der Soldaten der Garde von Napoleon, sowie der französischen Soldaten des 1. Weltkrieges) uraufgeführt, eine Oper in einem Akt und drei Szenen mit Charles Friant in der Hauptrolle.
Ab den 1890er Jahren widmete sich Flégier auch eifrig seinen beiden anderen Leidenschaften, der grafischen Kunst und der Poesie. Er fertigte fast hundert Aquarellen und Zeichnungen an. Er stellte eine Sammlung von Gedichten und Erinnerungen mit dem Titel “À travers la vie“ (Durch das Leben), sowie eine Sammlung von Geschichten und Gedichten im Dialekt der Provence mit dem Titel „Per dire ooun cabanoun“ zusammen.
1902 wurde Flégier für sein gesamtes Kammermusikwerk mit dem Chartier-Preis ausgezeichnet. Bereits 1884 mit der Akademischen Palme ausgezeichnet, wurde ihm 1903 der Titel eines Ritters der Ehrenlegion (“Chevalier de la Légion d’Honneur”) verliehen.
Er verstarb am 8. Oktober 1927 in Marseille an den Folgen eines Unfalls mit der Straßenbahn. Er wurde auf dem Saint-Pierre-Friedhof in Marseille begraben. Sein Neffe, der Bildhauer und Arzt Maurice Mangepan-Flégier, schuf seine Grabmaske, womit er allerdings, ohne sein Wissen, gegen den letzten Willen seines Onkels verstieß. Dieser hatte einige Jahre zuvor in seinem Testament folgendes festgelegt:
Überlegungen und Arrangements bezüglich meiner Beerdigung
Da alle Religionen auf Unwissenheit und Ausbeutung der Menschheit basieren, möchte ich zivil und so einfach wie möglich begraben werden. Der Leichenwagen der Armen oder der untersten Klasse.
Da Blumen zur Freude und zum Vergnügen da sind, möchte ich weder Blumen noch Kränze. Lediglich die Ehrungen dürfen hinter meinem Sarg aufgereiht sein, auf einem schwarzen Kissen vor der Leichenwagentür.
Da Trauer im Schmerz und nicht im Kostüm liegt und dieser nur dazu dient, diejenigen traurig zu machen, die ihn sehen, und nicht diejenigen, die ihn tragen, bitte ich darum, dass niemand über meinen Tod trauert. Deshalb keine Trauermesse, weder Geburtstagsfeier, noch andere religiöse Zeremonie.
Da der Umgang mit einer verstorbenen Person eine Schändung der sterblichen Überreste darstellt, ist es mein Wille:
1° nicht bekleidet zu werden, sollte ich in meinem Bett sterben, und einfach in ein Leichentuch gehüllt oder im antiken Stil drapiert zu werden.
2° wenn ich in Straßenkleidung sterbe, es so zu belassen, wie ich zum Zeitpunkt meines Todes sein werde.
Ich möchte an meinem Beerdigungsbett kein Kreuz, keine brennende Kerze, kein Weihwasser, keinen Buchsbaumzweig oder irgendeinen religiösen Gegenstand haben.
Die Erinnerung an den Verstorbenen muss in einem gesunden und lebendigen Zustand und nicht im Zustand einer Leiche verewigt werden. Ich verbiete absolut jedem, meinen Körper jemandem zu zeigen. Das ist es, was meiner Meinung nach den wahren Totenkult von dem unterscheidet, was ich den Kult der Friedhöfe oder der Verwesung nennen würde.
Ich möchte, dass diese Bestimmungen veröffentlicht werden.
Marseille, am 25. April 1913.
Gezeichnet: Ange Flégier
Flégier schrieb fast 120 Melodien, von denen er viele orchestrierte. In seinen Liedern behandelt er das Klavier als wäre es ein komplettes Orchester und ist insofern Henri Duparc sehr ähnlich.
Einen ersten größeren Erfolg hatte er 1868 mit der Melodie “Stances”, komponiert auf einen Text seines Freundes Ferdinand Loviot. Dieses Lied war anfangs des 20. Jahrhunderts bei französischen Tenören sehr beliebt, wie die Aufnahmen von u.a. Léon Escalais, Agustorello Affre, Albert Vaguet oder Charles Rousselière belegen.
Léon Escalais: https://youtu.be/ZjRc3TGIu1U?si=t8QMtK4kht3CXaG9
Doch erst der große Erfolg seiner Melodie “Le cor” (Das Horn), erstmals aufgeführt am 22. Juni 1880, ermöglichte ihm von seiner Musik zu leben. Das Lied ist komponiert auf ein Gedicht des Poeten Alfred de Vigny (1797-1863). Eingeleitet mit dem Ruf von Hörnern, beginnt die Melodie mit den mehrmals wiederkehrenden Worten “J’aime le son du cor, le soir au fonds des bois” (Ich liebe den Klang des Horns, abends tief im Wald). Die Interpretation dieser Melodie erfordert eine kraftvolle Stimme, die es dem Sänger ermöglicht, sich über zwei Oktaven vom Pianissimo bis zum Fortissimo zu entwickeln. Dabei geht es in der Originalpartitur hinunter bis zum tiefen “D” (Tonalität: D-Dur).
Viele große französische Bassisten haben anfangs des 20. Jahrhunderts diese Melodie auf Tonträger aufgenommen, u.a. Paul Plançon, Juste Nivette, Paul Aumonier, Paul Payan, Marcel Journet, Namen die heute leider nur mehr absoluten Opernkennern geläufig sind. Später hat der berühmte russische Bass Fjodor Schaljapin die Melodie aufgenommen. Allerdings verzichtet er zum Schluss auf das Singen des tiefen “D”. In den Vierzigern und Anfang Fünfzigern sang Ezio Pinza die Melodie auf Schallplatte oder für Radio- und Fernsehsendungen.
Wen die Klangqualität dieser frühen Aufnahmen stört, den verweise ich auf Aufnahmen der sechziger Jahre mit den französischen Bässen Adrien Huc-Santana und Adrien Legros. Von bekannten Bassisten der letzten zwanzig Jahre, kenne ich die Melodie nur in einer Aufnahme von Roberto Scandiuzzi. Ist dies ein Zeichen, dass die Spezie der tiefen Bässe ausstirbt, in Folge des Strebens heutiger Sänger nach höher liegenden Gesangpartien? “Wahn, Wahn, überall Wahn!”
Verschiedentlich wurde das Lied auch von Baritonen aufgenommen, dann aber um einige Halbtöne nach oben transponiert (so zum Beispiel von Henri Albers, Michel Dens). Dabei verliert die Melodie jedoch viel von ihrem ursprünglichem Charme und Wärme.
Die Art der Begleitung unterscheidet sich von Aufnahme zu Aufnahme: von Klavierbegleitung mit und ohne Hörner bis hin zum vollen Orchester.
Adrien Legros: https://youtu.be/GF6bUf7oCqw?si=ow28ezglyDlN0io5
Von den anderen Vokalwerken von Ange Flégier gibt es sehr wenige bis keine Aufnahmen. 2016 erschein allerdings beim Label Toccata Classics die CD “Ange Flégier: Mélodies for Bass Voice and Piano”, gesungen von einem amerikanischen Bassisten, Jared Schwarz, begleitet von der Pianistin Mary Dibbern. Diese CD beinhaltet außer “Le cor” noch zwölf andere Lieder von Flégier, die meisten davon komponiert für Bassisten. Diese Produktion ist zwar sehr interessant, allerdings kann ich mich mit der knorrigen Bassstimme und der amerikanisch geprägten Diktion des Sängers nicht anfreunden. Trotzdem soll sie vollständigkeitshalber hier zum Schluss erwähnt sein.
Jean-Nico Schambourg, 19. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jean-Nico Schambourg, Jahrgang 1959. Gehört einer weltlichen Minderheit an: Er ist waschechter Luxemburger! Und als solcher war es normal, Finanzwirtschaft zu studieren. Begann seine berufliche Karriere bei der Kriminalpolizei, ehe er zur Staatsbank und Staatssparkasse Luxemburg wechselte. Seit jeher interessiert ihn jede Art von Musik, aber Oper wurde seine große Liebe. Er bereist ganz Europa, um sich bekannte und unbekannte Opern und Operetten anzuhören. Nebenbei sammelt der leidenschaftliche Hobbykoch fleißig Schallplatten über klassischen Gesang (momentan ungefähr 25.000 Stück). Sang in führenden Chören in Luxemburg, verfolgt seit einigen Jahren aber ausschließlich eine Solokarriere als Bass. Sein Repertoire umfasst Lieder und Arien in zwölf Sprachen. Unter der Bezeichnung “Schammilux Productions” organisiert er selbst jährlich zwei bis drei Konzerte. Perfektionierte sein Singen in Meisterkursen mit Barbara Frittoli, Jennifer Larmore sowie Ramón Vargas, organisiert von “Sequenda Luxembourg”, einer Organisation zur Förderung junger Sängertalente, geleitet von seiner Gesangslehrerin Luisa Mauro. Neu auf klassik-begeistert.de: Schammis Klassikwelt, regelmäßig am Sonntag.
Schammis Klassikwelt 19: Eileen Farrell klassik-begeistert.de, 17. September 2023
Schammis Klassikwelt 18: Wann geht der nächste Schwan? klassik-begeistert.de, 3. September 2023
Merci!
Jürgen Gauert