Augustinerlesesaal © onb.ac.at
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Es war ein Traum. Sylvia und ich saßen im Volkstheater, da ertönte vor geschlossenem Vorhang von vorn ein Orchester. Welche Oper im schönen Fellner & Helmer-Bau (ein Sprechtheater!) zur Aufführung kam, verriet der Traum nicht. Das Erwachen kam zu früh bzw. ließ sich aus dem Unbewussten die weitere Handlung nicht erheben.
In unserem Essay „Überbietet die Oper das Theaterstück oder den Roman?“ lässt sich eine Skepsis bezüglich der Verwandlung eines Romans in das Genre der Oper herauslesen. Die Muse der erzählenden Dichtkunst, auch der Rhetorik und der Philosophie, Καλλιóπεια, die Schönsprechende, hat von ihrem Aussehen und Wesen her auch nichts Theatralisches an sich.
Bei unseren Lieblingsnovellen und Romanen verspüren wir kein Bedürfnis durch die Musik und den Gesang auf eine noch höhere Stufe gehoben zu werden.
Auf der anderen Seite wären uns viele literarische Kostbarkeiten verborgen geblieben. Hätten wir jemals den Roman „Die Kameliendame“ gelesen? Sein Autor Alexandre Dumas d.J., der sonst im Schatten seines Vaters stand, hat zu dem erfolgreichen Roman bereits eine Theaterfassung geschrieben. Die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt wurde später mit der Titelrolle identifiziert.
Wir identifizieren bis heute Verdis „Die vom Wege Abgekommene“ mit Ileana Cotrubaş.
Es konnte das Band vom Roman zur Oper auch ein Film sein. So geschehen bei Thomas Manns „Tod in Venedig“. Fundament ist symphonische Musik von Gustav Mahler. Es herrschen in dem berühmten Visconti-Film die Gesetze des Filmdramas, knappe Dialoge, Gestik und Mimik in Naheinstellungen, während zu der damaligen Zeit die Bühne nur die Totale kannte. Mehrere Male haben wir später Brittens „Death in Venice“ gewählt. Dann vor kurzem in der Wiener Volksoper erlebten wir das Stück viel intensiver. Die Lektüre der Novelle hat uns aufmerksam gemacht: „Begegnisse eines Einsamen sind eindringlicher als die des Geselligen. Seine Gedanken sind schwerer und nie ohne einen Anflug von Traurigkeit. Wahrnehmungen, die leichthin abzutun wären, vertiefen sich, werden bedeutsam.“
„Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut“. Das einzig erfolgreiche Werk von Antoine-François Prévost. Der Titel lässt einen breiten epischen Stil erwarten. Opern bilden dann die Kunst des Kürzens. Die Bearbeitung von Jules Massenet gefällt uns besser als die von Giacomo Puccini, wo wir Wesentliches vermissen. So merkt man bei der nur mit ihrem Vornamen „Manon“ betitelten Oper von Massenet das Autobiografische, das die Librettisten Henri Meilhac und Philippe Gille belassen haben. Bei Puccini waren übrigens zu viele Autoren mit dem Libretto befasst.
Theater und Musiktheater haben etwas Geschwisterliches. Der Sprechablauf, nicht erst der Gesang, ist sehr vielschichtig und ineinandergreifend. Allein die Sprecherstimme erweckt Gefühle. Ein Regisseur der „Glasmenagerie“ hielt die Interpretin der Laura an ihr unsicheres und gehemmtes Wesen zu betonen, indem sie ihre Stimme hinaufschraubt. Gerade diese Schauspielerin hatte ich für eine CD-Aufnahme von Briefliteratur wegen ihrer schönen Altstimme ausgewählt. Ihre natürliche Stimme hätte zu Lauras Melancholie ideal gepasst.
Wir finden, es ehrt den Dichter der „Glasmenagerie“, wenn sein Drama „A Streetcar Named Desire“ den Dirigenten André Previn zu einer Vertonung inspirierte. Gut vorstellen können wir uns auch als Oper sein „Orpheus steigt herab“, uns in der Filmversion mit Anna Magnani und Marlon Brando aus unsrer Schulzeit unter anderem Titel in Erinnerung geblieben.
Wir hatten das Glück bei einem Besuch Prags Smetanas „Libuše“ im Nationaltheater einplanen zu können. Wir wunderten uns, dass diese tschechische Oper zwar ziemlich regelmäßig, aber meistens höchstens zweimal im Jahr auf dem Programm steht, und entdeckten, dass es Brauch ist, sie immer am 28. Oktober, dem tschechischen Nationalfeiertag, zu spielen. Es war eine gesanglich sehr gute Aufführung – die tschechischen Sopranistinnen sind international zu wenig bekannt -, aber das Libretto von Josef Wenzig kann der „Libussa“ des österreichischen, slawophilen Dichters Franz Grillparzer nicht die Hand reichen.
Bei einer Durchsicht der häuslichen Bibliothek bezüglich potentieller Opernstoffe stießen wir auf Erich Kästner. Da fiel uns ein, dass wir sein „Pünktchen und Anton“ als ansprechende Oper bereits kennen.
Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ (Musik: Katrin Schweiger, Text: Marco Dott) genossen wir als Musical im Salzburger Landestheater. Der Vorteil der Dramatisierung bestand darin, den Roman auf heutige Schulverhältnisse abstimmen zu können. So erhalten Mädchen dankbare Rollen, während es im Original nur Bubenklassen gibt.
Kinder- und Jugendliteratur scheint als Ausgangspunkt für Opern geeignet zu sein. Wir zogen aus den Buchreihen ein Taschenbuch heraus, in dem der ehemalige Erzbischof von Bologna, Giacomo Card. Biffi, anhand der Erzählung „Pinocchio“ des Autors Carlo Collodi den Katechismus kommentiert.
Neben einem Musical haben wir zwei hervorragende Opern über Pinocchios Abenteuer gesehen, in der Wiener Volksoper von Pierangelo Valtinoni und in Chemnitz von Jonathan Dove. In letzterer kam die Fee mit den türkisblauen Haaren, laut Erzbischof Biffi Symbol der Kirche, besser zur Geltung. Natürlich können alle drei sehenswerten Werke die originelle Nacherzählung für Erwachsene „Pinocchio oder die Frage nach Gott“ nicht ersetzen. Am Rande bemerkt wendet sich auch Benjamin Britten in „Let’s Make an Opera“ an die Kinder aufbauend auf der Novelle von Charles Dickens „Der kleine Schornsteinfeger“.
Bei der weiteren „Inventur“ des Bücherschranks wurden wir nicht sehr fündig, weil ein Überhang an Sachbüchern vorhanden ist. Bei den restlichen Büchern läge es in der Genialität eines Komponisten und seines Librettisten Novellen und Romanen eine ungeahnte Dimension zu verleihen.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 12. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“