Schweitzers Klassikwelt 124: Welche Stimmcharaktere wir Romanfiguren gäben

Schweitzers Klassikwelt 124: Welche Stimmcharaktere wir Romanfiguren gäben  klassik-begeistert.de, 1. Oktober 2024

Tatjana (Ruzan Mantashyan) und Eugen Onegin (Boris Pinkhasovich) Foto: Wiener Staatsoper, Michael Pöhn

Verwundert hat uns, dass Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach der Lektüre von Puschkins „Eugen Onegin“ die lebenslustige und etwas oberflächliche Olga mit einer Altstimme verband und die verträumte, nachdenkliche Tatjana im Geist mit einer höheren Stimme hörte.


von Lothar und Sylvia Schweitzer

Bei häufigem Besuch der Strauss’schen „Salome“ ist es überraschend, wenn in der „Hérodiade“ von Jules Massenet Plácido Domingo als Tenor Johannes den Täufer singt. Wahrscheinlich weil bei Massenet Johannes seine Gefühle gegenüber Salome nicht unterdrückt, sondern ausspielt, wofür altherüberkommen ein Tenor zum Einsatz kam. Des Hérodes Stimme ist nicht wie bei Richard Strauss grell gefärbt, sondern klingt baritonal herüber.

Für uns werden die Figuren eines Romans nicht immer so lebendig, dass wir sie uns mit einer konkreten Stimme vorstellen. In Tolstois „Krieg und Frieden“ wird auffallend oft, besonders bei tiefen Stimmen, der Klang der Stimme vermerkt. Aber wir wollen es versuchen. An vielen der gelesenen Romane fehlt über weite Strecken die direkte Rede, es werden mehr die Gedanken gebracht. Die äußern sich nicht über die Stimmbänder. Und unsre Vorliebe für Sachbücher bietet auch keine Gelegenheit.

Weil wir uns am Anfang leichter tun, beginnen wir als Übergang mit einem Theaterstück. Die Laura in Tennessee Williams’ „Die Glasmenagerie“ ist ein introvertiertes, verträumtes Mädchen, das wir uns mit einer Altstimme vorstellen. Vielleicht durch ein amerikanisches Gastspiel im Burgtheater voreingenommen, kommt für ihren Bruder Tom für uns nur ein Bariton in Frage. Wäre Williams’ „Ein Spiel der Erinnerungen“, wie „Die Glasmenagerie“ im Untertitel heißt, eine Oper, dächten wir beim „Besucher“ an einen Heldentenor. Als Sprechstimme sollte die Stimme bloß glatter und weniger angeraut als die von Tom klingen. Und die etwas exaltierte Mutter wäre in einem Musiktheater am besten für einen dramatischen Sopran geschrieben, eher dunkel mit überraschenden Höhensprüngen, eine natürliche Sprechstimme imitierend.

Im Roman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink aus dem Jahr 1995 wird ein fünfzehnjähriger Gymnasiast Michael auf der Straße von Übelkeit befallen und von einer unbekannten Frau bei ihr zuhause betreut. Es beginnt ein vor seiner Familie und seinen Schulkameraden geheim gehaltenes erotisches Verhältnis, bis er Hanna, eine Mittdreißigerin, die fast seine Mutter sein könnte, aus den Augen verliert. Im Zuge seines Jusstudiums begegnet er ihr als angeklagte ehemalige SS-Aufseherin bei Gericht wieder. Sie wurde zunächst zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Und Michael begann für sie auf Kassetten Literatur vorzulesen, wie sie es als aufmerksame Zuhörerin früher so gern mochte. Er wusste jetzt, dass sie immer gezwungen war ihren Beruf zu wechseln, weil sie sich nicht als Analphabetin outen wollte. Nun im Gefängnis lernte sie Lesen und Schreiben, indem sie immer wieder die Kassette ausschaltete und im Leihbuch nachlas. Sie wird schlussendlich begnadigt. Jetzt erst besuchte Michael die um mehr als zwei Jahrzehnte älter gewordene Frau, um ihr beim Schritt in die Freiheit behilflich zu sein. Einen Tag vor der Entlassung nahm sie sich das Leben.

Nicht zum ersten Mal stiegen mit fortschreitender Lektüre und Ergriffenheit Zweifel an einer laienhaften Dramatisierung auf. Aber das eine Mal wollen wir das Experiment nicht abbrechen. Im Mittelpunkt stehen die bereits erwachsene Hanna und der Gymnasiast Michael, die sich dann zweimal – jeweils älter geworden – wieder begegnen, was eine darstellerische Herausforderung bedeutet, da wir weder die Rolle der Hanna noch die des Michael aufteilen wollen. Ohne viel Überlegung stellen wir uns für die etwas herb geschilderte Hanna einen Alt vor. Beim fünfzehnjährigen Gymnasiasten fehlt diese Spontanität aus dem Gelesenen.

Bild 1: Hans Werner Henze, Szene aus „Das verratene Meer“: Der Sohn beobachtet seine Mutter, Aquarell auf Papier – Paul Sacher Stiftung, Sammlung Hans Werner Henze

Wir assoziieren einen etwa Gleichaltrigen aus Henzes Oper „Das verratene Meer“ und seinen Interpreten Josh Lovell, der es verstand, in der Sohn-Rolle des Noboru seinen Tenor so abwandelnd zu gestalten, dass wir einen eben erst seinen Stimmwechsel Beendenden hörten.

Die restlichen Rollen sind kleine Partien. Wenn auch nicht unwichtig zur Milieubeschreibung, hätte seine Familie durch ihre Einsilbigkeit am Mittagstisch keine Gelegenheit mehr als eine Oktave auszuschöpfen, um nicht exaltiert zu klingen. Sein introvertierter Vater, Universitätsprofessor für Philosophie, hatte zu entscheiden, wann sein Sohn nach der Lebererkrankung wieder ein Leben außerhalb der schützenden häuslichen Atmosphäre beginnen soll. Unauffälligkeit ist geboten, keine extreme Stimmlage, die häufigste männliche Stimmlage ist der Bariton. Soll die Stimme der Mutter ähnlich der der Stimme Hannas klingen? Das ist eine Frage an die Psychologie. Für den älteren Bruder würden wir für seine wenigen Sätze symbolisch die Bass-Tessitur wählen. Bei der kleineren Schwester stellt sich die Frage: Hat sie noch die Mädchenstimme oder ist sie bereits nach dem Stimmwechsel? Im ersten Fall denken wir an ein Mädchen der Opernschule womöglich, wenn solistisch einsetzbar, vor der Mutation.

Im zweiten Teil steht die Gerichtsverhandlung im Vordergrund. Vom Vorsitzenden wird wiederholt ausgedrückt, dass er sich während der Verhandlung gern hinter einem irritierten Gesichtsausdruck verschanzt hätte. Allzu schablonenhaft verbinden wir bei einer Suche nach einem Stimmtypus mit einem Charaktertenor. Einen ganz anderen Eindruck gewinnt der Jusstudent Michael bei einer privaten Aussprache: ein nettes, intelligentes Gesicht. Wir korrigieren auf lyrischen Tenor. Und die Mitangeklagte, die Hanna mehr belasten will und sie beschimpft, wird als derbe Frau mit gluckenhafter Behäbigkeit und zugleich mit gehässigem Mundwerk apostrophiert. Eine dramatische Stimme ist erforderlich.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 1. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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