Titelbild © Basilius Presse Basel 1962
Jedes Buch in unsrer Bibliothek hat seine Geschichte. Dieses Werk ist eines der vielen Buchgeschenke der Gesangspädagogin meiner Frau, Ella Firbas, die bei mir mit Jugendbüchern wie Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ seinen Anfang nahmen.
Bei dem vorliegenden Buch „Primadonna – Lob der Stimmen“ von Alex Natan sind uns einige Namen bis dahin völlig unbekannt gewesen (Adelina Patti, Maria Ivogün, Elisabeth Rethberg, Marcella Sembrich u. a.), einige wiederum sind uns zumindest literarisch ein Begriff, wie Geraldine Farrar, Ljuba Welitsch, Kirsten Flagstad. Eine kleine Gruppe kennen wir von historischen Aufnahmen (Maria Callas, Lotte Lehmann, Frida Leider, Amelita Galli-Curci, Selma Kurz), bei einigen hatten wir noch das Glück sie selbst auf der Bühne zu erleben, oft jedoch leider nur ein einziges Mal. Als wir die kurz gehaltenen Monografien lasen, traten wir unwillkürlich in eine Art virtuellen Dialog mit dem Autor.
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Beginnen wir bei den „Göttlichen“ mit Giulietta Simionato. Alex Natan schreibt: „Ihr Künstlertum hat sie frühzeitig gelehrt ihre stimmliche Reichweite auszudehnen. Sie wäre jederzeit bereit gewesen die Adalgisa mit der Norma zu vertauschen.“ Die Komponisten hätten der Firmierung der weiblichen Partien keine große Bedeutung beigemessen. Mozart bezeichnete Dorabella und Cherubino als Soprane. Die Differenzierung der an sich beweglichen Frauenstimme existiert erst seit zweihundert Jahren!
Anlässlich der Salzburger Pfingstfestspiele 2013, bei denen Cecilia Bartoli die Norma sang, blies die Bartoli in das gleiche Horn. Sie zeigt sich skeptisch, was die Wahl der Stimmlage betrifft. Bei der sehr flexiblen Frauenstimme geht auch sie zurück in die Zeit, in der die weibliche Stimme noch nicht in die Fächer Sopran, Mezzosopran und Alt getrennt wurde, wobei unseres Erachtens die Grenzziehung zwischen Mezzosopran und Alt auch heute noch sehr unscharf ist. Mag vielleicht bei der Bartoli der Ehrgeiz mitgespielt haben, wir konnten uns anhand der Notenbeispiele in Opernführern überzeugen, dass die Partie der Norma viel Mittellage hat. Dazu kommt nach Ansicht der Bartoli die Entwicklung im Instrumentenbau.
Die Begleitung wurde immer breiter und lauter. Das ging in eine unausweichliche Richtung der Interpretation der Norma. Sie wurde immer mehr zur hehren, hochdramatischen Diva hinaufstilisiert. Nicht mehr Gottesdienerin, sondern selbst göttlich. So lehrt es uns die Bartoli. Normas Freundin und Rivalin Adalgisa wird in den Opernführern manchmal als Mezzosopran, manchmal als Sopran angeführt. Die erste erlebte Adalgisa war im Teatro di San Carlo di Napoli der Mezzo Viorica Cortez, die Norma Montserrat Caballé. In Salzburg hieß es umdenken. Die Bartoli gab in Begleitung von zurückgenommenen historischen Instrumenten die Norma, ihr zur Seite als Adalgisa der Sopran Rebeca Olvera. Ganz verloren wir unsre prüfende Zurückhaltung nicht. Der Titel unsrer privaten Aufzeichnungen zitiert Shakespeares „Romeo und Julia“: „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche.“
Kommen wir auf die Simionato zurück. In einer andren Quelle lesen wir von der Sängerin mit zwei Stimmen. Im Verlauf von sieben Jahren hätte ich in Wien Gelegenheit gehabt sie in elf Partien an 134 Abenden zu hören. Es wurde nur ein Abend mit ihr als Eboli. In Erinnerung blieben ihr markantes Gesicht von nicht klassischer Schönheit und ein typischer Mezzosopran. Gegen Ende der Monografie steht ein Satz, der in der heutigen Zeit zu Widerspruch anregt und doch zu denken gibt: „Als Darstellerin arbeitet sie mit sparsamen Mitteln, da sie durch das Timbre ihrer Stimme ersetzt, was übertriebene Gesten gefährden könnten.“
„I solde Karten besorgen, doch es verdrießt an.“ Dieses Wortspiel auf Wienerisch verfassten Gerhard Bronner und Helmuth Qualtinger, wenn uns nichts täuscht, in einem Feuilleton der Tageszeitung Kurier Ende der Fünfzigerjahre, das die Schwierigkeiten Karten für die Wiener Staatsoper zu ergattern zum Thema hatte. Der Verfasser der vor uns liegenden Monografie über Birgit Nilsson bemüht sich diese Ausnahmesängerin nicht einseitig als Wagnersängerin einzuordnen. Es gelang mir nicht, sie als Wagnersängerin zu erleben. Einmal sagte sie als Isolde kurzfristig ab und einmal fand ich nach einem arbeitsreichen Tag zur Oper hetzend den roten Aushang vor: „Tosca“ statt „Tristan und Isolde“.
In erster Linie assoziiere ich deshalb die Nilsson mit Puccini, als hoheitsvolle Floria Tosca und als Turandot. Nach einer glanzvollen Turandot-Aufführung ging mir der lakonische Kommentar meiner Sitznachbarin nicht mehr aus dem Sinn: „Ein Stimmbänderwunder.“ Hat sie das etwa abwertend gemeint? Dass die Prinzessin nicht so eisgegürtet dramatisch singen muss, hatte in der Wiener Volksoper die Südkoreanerin Jee-Hye Han bewiesen. Von kleiner, nicht erhabener Gestalt erweckte ihr Gesang Sympathie und meine Frau und ich wünschten, dass sich die Prinzessin in ein neues Leben zu befreien vermag.
Wenn schon nicht als Wagner-Heroine so ist Birgit Nilsson uns als Strauss-Sängerin eingeprägt. Ihre Elektra strahlte neben der Chrysothemis von Leonie Rysanek, der in dem Buch ebenfalls eine Monografie gewidmet ist und die uns auch als Salome und als Ariadne, „die die Nymphen respektvoll in die Schranken weist“, wie wir in einem Bericht schrieben, begeisterte.
In dieser Monografie merkt man, dass die Auflage dieses Buchs schon zig Jahre alt sein muss. Die Rysanek bekennt sich hier zur Originalsprache, andrerseits räumt sie ein, dass ein Verstehen der Sprache von Bedeutung sein kann, wenn der Text literarischen Wert besitzt. Zur Zeit des Drucks bzw. des Interviews fehlten also noch die Über- oder Untertitelungen in den Opernhäusern. Außerdem war man im Kunstgesang vor Jahrzehnten mehr auf Helligkeit und Glanz bedacht, was der Textverständlichkeit förderlich war, als auf Rundung und Wärme.
„Es ist eigentlich ziemlich gleichgültig, ob der Zuschauer in sich aufnimmt, was zwischen dem Gouverneur und Rocco vorgeht. Das Gesicht der
Gré Brouwenstijn ist ein Augenzeugenbericht. Es ist dann nur selbstverständlich, dass diese einmalige Leonore in die große Arie ‚Abscheulicher, wo eilst du hin‘ ausbricht. Kein Vulkan bricht hier aus. Fast leise, ja zögernd, weil sie noch immer nicht das Gehörte begreifen kann. Aber dann bricht die ganze Leidenschaft eines Weibes durch… Ihr Selbstvertrauen, durch Liebe und Treue den Mann zu retten, überflutet die Bühne.“ (Wörtlich aus der Monografie entnommen)
Nach erst zwei Jahren Opernerfahrung wäre ich bei meinem „Fidelio“, wo ich das Glück hatte diese Künstlerin zu hören, auf solche Gedanken nie gekommen. Da braucht es etliche Jahre nicht nur Opern-, sondern auch Lebenserfahrung dazu. Aber wohl wurde mir bei der kleineren Partie der Freia bewusst, ein Kleinod vor mir zu haben. Aber das waren zwei einmalige Erlebnisse. Hunderte Male genoss ich ihre Martha auf Schallplatte. Von ihrem „Ja, ja, ich bin bereit“ wurde ich immer wieder berührt, so dass trotz später häufigen Besuchs von „Tiefland“, sie „meine Martha“ blieb.
Sena Jurinac ist uns nicht nur in androgynen Strauss-Rollen bekannt.
Ohne in unsren Unterlagen nachzuschlagen fällt die Erinnerung auf Puccinis „Tosca“ und „Cio-Cio-San“. Eher als biedere Darstellerin eingeschätzt, war das Erstaunen groß sie in Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ in der Titelrolle mit erotischer Ausstrahlung kennen zu lernen. Zum hymnischen Stil des vorliegenden Buchs passend lesen wir die kritische Galerie der Wiener Staatsoper sagen: „Na ja, sie ist guat, aber die Sena ist sie halt nicht.“ Wir wiederum sind dankbar, dass wir Nachwuchs entdecken. Über eine französische Mezzosopranistin in der Rolle des Komponisten im Vorspiel zu „Ariadne auf Naxos“ schrieben wir vor nicht allzu langer Zeit in einer Rezension begeistert: „Ihre dramatischen Höhenflüge und Temperamentsausbrüche erreichten eine Raumfülle, die das im Text Ausgesagte geradezu übersteigt.“
Wenn wir auf den Namen Hilde Güden stoßen, so erscheint sofort vor uns ihre Sophie mit dem seidigen Glanz in der Stimme, den wir bei ihrer ebenfalls ausgezeichneten Kollegin Anneliese Rothenberger bei der Überreichung der silbernen Rose mit eher „rollender“ Stimmführung vermissten.
Nach ihrer Gilda und nach ihrer Micaëla können wir uns der in der Monografie zitierten Kritik anlässlich ihres Debüts als Gilda an der MET nur anschließen: „Lieblich zu sehen, noch lieblicher zu hören.“ Zu einer nicht alltäglichen Kostbarkeit gestaltete sich ihre Mélisande unter Herbert von Karajan an der Wiener Staatsoper. Leider hatte sie lange Zeit gesundheitlich zu kämpfen und verließ uns knapp nach ihrem 71. Geburtstag in Klosterneuburg nahe bei Wien.
Mit dem Namen Elisabeth Schwarzkopf bleibt mir der 5. Januar 1961 für immer verbunden. Ihre Capriccio-Gräfin überragt sogar ihre Feldmarschallin und ihre Fiordiligi. Gut die Hälfte der Monografie erzählt unübertrefflich die letzte Szene mit der Gräfin. Weder Schweitzers Klassikwelt 52 „Mein erster Capriccio-Abend“ noch Schweitzers Klassikwelt 54 „Lieblingssängerinnen“ können dieser intensiven Schilderung eines Opernerlebnisses die Hand reichen.
Bei der Lektüre des lesenswerten Briefwechsels zwischen Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal über ihre gemeinsame Arbeit für „Arabella“ (siehe SKW 63 „Arabella“ – die letzte gemeinsame Arbeit) dachten wir, wenn der Dichter von der Figur eines jungen, aber sehr reifen und wissenden Mädchens schwärmt, das Herrin der Situation ist, an die Arabellissima Lisa Della Casa, die den erhabenen Schlusspunkt unsres Feuilletons bildet.
Auch „Primadonna“ bedauert, dass „Arabella“ so lange, vielleicht bis heute neben dem „Rosenkavalier“ ein Aschenbrödel-Dasein fristet. Als weiterführende Lektüre zu empfehlen: Schweitzers Klassikwelt 8 „Aus dem Zeitalter der LP: Arabella“. Mit Lisa Della Casa und Hilde Güden.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 10. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 52: mein erster „Capriccio“-Abend, klassik-begeistert.de, 28. Dezember 2021
Schweitzers Klassikwelt 54: Lieblingssängerinnen, klassik-begeistert.de
Nun ja, wenn man sich als Stimmen- und Opernkenner ausgibt und einem die Sängerinnen Adelina Patti, Maria Ivogün, Elisabeth Rethberg, Marcella Sembrich nicht bekannt sind, würde ich das nicht öffentlich zugeben.
Jürgen Gauert
Mein werter kritischer Leser!
Das Buch „Primadonna“ bekam ich Weihnachten 1963 als zwanzigjähriger Student geschenkt. Ich war damals erst fünf Jahre Opernliebhaber. Bei meiner Frau verhielt es sich ähnlich. Außerdem lernt man auch nach jahrelanger Erfahrung nie aus. Die schöne Opernwelt ist nahezu unendlich reichhaltig, so dass es immer wieder weiße Flecken zu entdecken gibt.
In gemeinsamer Begeisterung für die Oper mit freundlichen Grüßen
Ihr Lothar Schweitzer