Schweitzers Klassikwelt 91: Ist es die Abendverfassung auf der Bühne oder das unterschiedliche Hörerlebnis des Publikums?

Schweitzers Klassikwelt 91: Ist es die Abendverfassung auf der Bühne oder das unterschiedliche Hörerlebnis des Publikums?  klassik-begeistert.de, 27. Juni 2023

Einhelliges Lob für Lisette Oropesa als Konstanze in „Die Entführung aus dem Serail“, Wiener Staatsoper   Foto: Michael Pöhn

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Hat sich der Charakter des Eugen Onegin in sechs Tagen so verändert? Ein Rezensent sieht in ihm den Misanthropen, eine andere Kollegin sagt dem blasierten Lebemann nach, er sei bei seiner Konfrontierung mit Tatjana zu liebenswürdig.

Nach einer Aufführung wird dem Interpreten nahegelegt, die Rolle des Pizarro zur Seite zu legen, weil dessen Stimme dieser hochdramatischen Partie nicht gewachsen ist und die große Arie ein verlorener Kraftkampf war.  Die Partie des Pizarro scheint ihre heimtückischen Seiten zu haben.
Selbst der große Hans Hotter fand in der Rolle nicht immer die gewohnte Anerkennung. Wir kamen zwei Abende später zu dem ähnlichen Urteil eines fehlenden Wohlklangs, aber mit dem beifügenden Nebensatz: „was einfach furchterregend wirkt.“ Unsre Schlussfolgerung: „Wir haben prominentere Darsteller des Pizarro schon gehört, aber dieser wird uns an erster Stelle im Gedächtnis bleiben.“ Assoziationen mit einem Propagandaleiter des Nationalsozialismus wurden wach. Nicht diesen Eindruck gewann eine Journalistin eine Woche vorher: Kein Superbösewicht, der Schrecken verbreitet, eine Art Alberich im Beamtenstatus.

Verschiedene Besprechungen lassen aber auch den Facettenreichtum einer Sängerin, eines Sängers zur Sprache bringen. So erfahren wir über einen „Lohengrin“ zunächst, dass er ein hervorragender Wagnersänger ist und es genießt, diese Rollen zu singen. Er kann die Stimme strahlen lassen und sich in Höhenekstasen hineinsteigern. Sein Tenor klingt immer gut und sicher und erweckt den Eindruck, dass die Rolle noch einmal so lang sein könnte. Auf den Boden der Realität zurückgekehrt heißt es im Schlusssatz dieser Hymne, dass er so manchen schmerzlichen Akzent seiner Stimme noch abgewinnen wird können. Aus andrer Quelle erfahren wir wie ungewohnt es ist, dass der Sänger mit dem „Lohengrin“ jetzt erst nach den „schweren Helden“ debütiert und so wie der jüngere Bruder von Tristan klingt. Und zwei Wochen nach seinem Debüt geht die Runde über eine Riesenstimme, die ohne Druck einen gewaltigen Klang erzeugt. Die kräftigen Töne besitzen eine ungeheure Stahlkraft. Man hört keine baritonale Grundierung. Der Autor zeigt Verständnis, dass es mit einer solchen Stimme schwer ist, ins Piano zu gehen, und verzeiht gern kleinere Textfehler und einen leicht freien Umgang mit den Noten. Wir vermerkten über unsren „Lohengrin“-Abend mit demselben Interpreten: „Sein Tenor vermittelt Klarheit und Reinheit, ideal für das Bild eines reinen Helden.“ Wir beckmesserten jedoch, dass seine Stimme dem Chor der sächsischen, thüringischen und brabantischen Edlen, Mannen und Frauen, nicht gewachsen war. Wir hörten keine Führungsrolle heraus.

Es ist typisch für Wiener Opernfans, bei noch nicht so bekannten Namen sich etwas reserviert zurückzulehnen. Das Gegenteil war bei einer der schwersten Mozart’schen Sopranpartien der Fall. Das maßgebende Opernjournal „der neue Merker“ jubelte emphatisch: „Ihr runder, kraftvoller, mit edel-dunklem Timbre ausgestatteter Sopran bewältigte die dramatischen Koloraturen bravourös.“ Johann Nepomuk Steiner „Sie führte als Konstanze die Besetzung an. Sie war die Einzige, die an diesem Abend Jubel einheimste. Bei ihren Auftritten mündete das Sing-Spiel in berührende, innige Momente. Sie meisterte alle Klippen dieser Rolle bravourös. Sie war als Leidbereite, Standhafte, tief Verletzte von glaubhaftem Leidenspathos.“ Karl Masek „Der wirkungsvollsten Rolle wird die Wien-Debütantin als großartige Konstanze vollstens gerecht und sie singt auch prächtig. Da ist alles vorhanden: ein Stimmvolumen, das in allen Lagen gleich gut anspricht, klangvoll, ausdrucksfähig und sowohl emotionaler Lyrik als auch hochdramatischen Koloraturen gewachsen ist.“  Sieglinde Pfabigan  „Als glänzenden Höhepunkt dieses Abends muss man Lisette Oropesa hervorheben. Wenn man mit Ausdrücken wie Phänomenalität und stimmlichem Wunder auch vorsichtig umgehen soll: diese Konstanze verdient nur die außergewöhnlichste und allerbeste Beschreibung. Die sicherlich schwerste Sopranrolle von Mozart mit breiten lyrischen Passagen und immensen dramatischen Koloraturkaskaden scheinen die Sängerin aus New Orleans nicht zu erschrecken.“   Susanne Lukas „Uns ist keine so eindrucksvolle Konstanze in Erinnerung. Sie füllt mit betörendem, vollem und rundem Klang den Raum und bietet ebenso vollendete Koloraturen. Von den SchauspielerInnen möchten wir die Konstanze der Emanuela von Frankenberg an die erste Stelle setzen. Eine der genialen Gesangspartie der Konstanze würdige schauspielerische Ergänzung. Es ist schade, dass sie dem Ensemble des Burgtheaters seit sehr vielen Jahren abhanden gekommen ist.  Lothar und Sylvia Schweitzer

Gesanglich lesen wir über den zweiten Abend mit der neuen Elisabeth de Valois von einer Höhe, die auch im Piano von reichlicher Schärfe beeinträchtigt wird. In der folgenden Aufführung wird wiederum von einem Spintosopran ohne Spintoschärfen berichtet. Drei Abende danach macht einzig ihre große Arie verschliffene Höhen vergessen. Waren wir in der Premiere von ihrer allseits gelobten noblen Erscheinung so berührt, dass wir einen warmen Sopran wahrnahmen, der in der Höhe aufblühte? Wir fanden alles von ihr stimmlich optimal ausgedrückt: ihr Mitleid mit den Nöten des Volks, ihre Träume von einem gottgewollten Glück mit dem Thronfolger, die plötzliche königliche Würde mit Verantwortungsgefühl, die Hoffnung auf eine bessere Welt.

Für junge Ensemblemitglieder sind Opernjournale, die jeden Abend betreuen, eine besondere Chance. So fanden alle RezensentInnen den Alt der neuen Maddalena Noa Beinart entweder sinnlich, verführerisch oder angenehm bzw. als eine schwere, dunkle Stimme und gaben den gut gemeinten Ratschlag, im Quartett noch die ideale Position heraus zu finden, um sich im Zusammenwirken mit den anderen zu profilieren.

Noa Beinart © Julian Baumann

Über ein Rollen-Debüt schrieben wir vom Wagnis eines Stabhochsprungs von der Barbarina zur Musetta in der Hoffnung am Ende der Staffel wird ihr gutes Stimmmaterial nicht mehr so hart klingen. Leider wurde dann sogar von teilweise schrillen Tönen berichtet. Dem Rezensenten dazwischen ging es mehr um den Gesamteindruck. „Sie wirft sich mit viel Temperament in die Rolle und kann nicht nur ihren Marcello fesseln.“ Ist damit auch das Publikum gemeint?

Eine neue „Salome“ mit einer neuen Prinzessin Salome. Wir lesen von einer überzeugenden Prinzessin mit einer hellen, durchschlagskräftigen, in der Mittellage und Höhe strahlenden Stimme. Kein Licht ohne Schatten. Die Tiefe ist weniger ausgebildet und die Wortundeutlichkeit wird angekreidet. Da die Sängerin in der dritten Aufführung ausfiel, wäre es nicht fair ihre Salome der zweiten Aufführung kurz davor zu beurteilen. In der vierten Aufführung wird das Engagement der neuen Salome gerechtfertigt und zwei Abende später lesen wir die Verdammnis: Sie sei nicht auf dem Niveau einer Premierenbesetzung. Zu einer nicht vorhandenen Tiefe kommt ihre angestrengte Höhe und die nur im Forte ansprechende und da häufig belegte Mittellage. Als Zeugen eines Abends der zweiten Staffel etwa elf Wochen später beobachteten wir nur am Anfang außerhalb der Attacken einen Verlust an Reinheit. Wir genossen wieder das Hochdramatische nach unsrer letzten sehr lyrischen, betont seelenvollen Salome.

Kritische Besprechungen einer künstlerischen Darbietung sind mehr als Einschätzungen und nicht als Beurteilungen zu werten. Man wird aufmerksam für heikle Stellen. Besprechungen können wie „Reiseführer“ bzw. als Opernführer genutzt werden.  In der Neuen Zürcher Zeitung freuten wir uns immer wieder auf die Rezensionen der Streichquartette, anhand derer wir uns im Laufe der Zeit einen Kammermusikführer herausfilterten.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 27. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt 90: Das Wörtchen „Aber“ kann das vorher Gesagte wieder aufheben klassik-begeistert.de, 13. Juni 2023

Schweitzers Klassikwelt 89: Aida oder Amneris, das ist hier die Frage! klassik-begeistert.de, 30. Mai 2023

Schweitzers Klassikwelt 87: Werden die Frauen in den Opern zur Inkarnation der Schwäche? klassik-begeistert.de 2. Mai 2023

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