von Sylvia und Lothar Schweitzer
Einen Teil unsrer LeserInnen wird der Name Ivan Rebroff, eigentlich Hans Rolf Rippert (Rippe = russisch rebro), etwas sagen. Aber wer von ihnen hat ihn noch in der Oper – zum Beispiel als Polizeikommissär im dritten Akt im „Rosenkavalier“ in der Frankfurter Oper 1965 – gehört, bevor er eine andere, medial ausgerichtete Laufbahn einschlug? Damals unauffällig konnte er nicht wie später mit vier Oktaven einschließlich Falsett trumpfen.
Da ist uns Tobias Kehrer bei den Salzburger Festspielen 2014 in dieser Rolle schon mehr aufgefallen. In weiterer Folge verkörperte dieser junge Bassist zu unsrer Genugtuung an der Deutschen Oper Berlin eine Reihe von Wagner-Partien und den Sarastro. Wir räumten in unsrer Kritik aber ein, dass wir nicht beurteilen konnten, ob er auch leiserer Töne fähig ist.
Und hier sind wir schon bei dem Problem. Was kann eine junge Sängerin, ein junger Sänger bei im Extremfall nur wenigen Takten uns zeigen und versprechen? Wie ist eine noch wenig bekannte Sängerin bzw. Sänger bezüglich Präsenz und Ausdauer in nur kurzen Auftritten zu beurteilen? Ein guter Walther von der Vogelweide muss sich nicht bis zum Tannhäuser entwickeln, ein Eindruck machender Biterolf nicht bis zum Landgrafen. Wir kommen uns da manchmal wie ein Spekulant an der Börse vor. Werden die Aktien fallen oder steigen.
Es lässt sich manches Mal nicht erklären, wieso eine Kleinpartie überraschend auffällt. So hörten wir im Vorspiel zu „Ariadne auf Naxos“ einmal einen Zweiten Tenor des Staatsopernchors, der auch Mitglied der „Wiener Comedian Harmonists“ ist, als Perückenmacher markant heraus. Das nächste Mal fiel er im großen Ensemble des Vorspiels, ohne dass es die Schuld der Orchesterbegleitung gewesen wäre, nicht sonderlich auf. Um bei dieser wunderbaren Oper zu bleiben. Je nach Sänger bzw. Abendverfassung glänzt Brighella mit seinem hohen Tenor und Truffaldin bildet den tiefen Kontrapunkt der männlichen Figuren der Commedia dell’arte oder sie verschmelzen gleichsam mit Harlekin und Scaramuccio zu einer Hauptrolle.
Ähnlich erging es den kleineren Partien einer Tosca-Aufführung, wo es im Bericht dann unter zwar namentlicher Nennung der Interpreten von Mesner, Angelotti, Spoletta, Sciarrone, Schließer und Hirte einfach nur heißt: „… vervollständigten die Bühnenmannschaft untadelig.“ Wir können zumindest mit der Enttäuschung des Sängers des Mesners mitfühlen, wenn er – salopp ausgedrückt – in einem Aufwasch mit den anderen rezensiert wird. Bezeichnend ist auch, dass lange Zeit neben „Ein Hirt“, wenn es sich nicht um eine Solistin der Wiener Staatsoper handelte, nur „Kind der Opernschule“ und viel früher „Ein Sängerknabe“ lakonisch und anonym zu lesen war. Dabei ist dieser kurze Gesang in der Morgendämmerung des dritten Akts sehr stimmungsvoll und einprägend. Heute werden die Kinder der Opernschule mit Namen angeführt.
Nicht sehr karrierefördernd finden wir Charakterisierungen wie „sie/er war glaubwürdig“, „an den Sängern der übrigen Rollen war nichts auszusetzen“, „sie ergänzten unauffällig“. Häufig lesen wir: „In kleinen Episodenrollen ergänzen …“ Als ein mit uns befreundeter Bassist, den wir als Baron Ochs und Osmin sehr schätzten, einmal für den Musketier in „Friedenstag“ eingeteilt wurde, machte er zu uns die Bemerkung: „Anwesenheitspflicht.“ Da klingt schon viel besser, wenn vor der einfachen Anführung der Namen mit den dazugehörigen Partien der Satz steht: „Sehr gut besetzt waren alle übrigen Rollen.“ Bei der oben schon erwähnten „Tosca“ haben wir einmal anerkennend vermerkt, dass unser Haus bei den Partien geringeren Umfangs aus dem Vollen schöpfen kann. Beim Spoletta konnten wir sogar genauer ausführen, dass der Tenor den Polizeiagenten im Vergleich zu den früheren skurrilen Urgesteinen lyrisch-elegant auslegte.
Eine geniale Lösung findet der immer um Kürze mit Würze bemühte Kollege Peter Dusek in der Opernzeitschrift „der neue Merker“, indem er in „Le nozze di Figaro“ für jede der SängerInnen der Marzelline, der Barbarina, des Basilio, des Gärtners und des Don Curzio ein treffendes Adjektiv findet. Man sollte eigentlich nicht von Verkürzung, dafür jedoch von Verdichtung sprechen.
Puccini war ein Meister kleiner, aber stimmungsvoller Szenen. Denken wir nur an das dritte Bild in „La Bohème“ mit seinem kalten Wintermorgen, das von Sängern winziger Rollen gestaltet wird. Zu beiläufig finden wir deshalb auch in einem Bericht über „Il tabarro“ den kurzen Satz: „N.N. als Liedverkäufer sowie N.N. und N.N. als Liebespaar hatten ihre kleinen Szenen.“ Wussten sie nicht Atmosphäre zu schaffen?
Wenn von der korrupten Giovanna, Gildas Gesellschafterin, berichtet wird, sie sei „adäquat“ besetzt, wäre es vielleicht vorteilhafter anstelle des Fremdworts „der Bedeutung entsprechend“ oder „angemessen“ einzusetzen. Für ein erfülltes Leben als Opernsängerin muss es nicht immer die „Maddalena“ sein. Von den 21 Giovannas an der Wiener Staatsoper seit 1958 ist nur eine Altistin bleibend zur Maddalena aufgestiegen.
Es ist ein Kreuz, wenn zum Beispiel Verdi in „La Traviata“ nur die Hauptrollen mit schöner Musik bedenkt und die übrigen Partien von ihm eher sparsam bedacht werden, wie dies Merker-Kollege Wolfgang Habermann einmal offen aussprach. Auch wir bedauerten im Merker-Heft bei einer „Nabucco“-Rezension: „Freddie De Tommaso weiß der nicht sehr ausgestalteten Rolle des Ismaele Glanz zu verleihen.“ Und weiter: „Der Oberpriester des Baal hätte in der Oper als Gegenspieler des Hohepriesters musikalisch mehr Gewicht erhalten sollen, ähnlich dem Verhältnis zwischen König Philipp und dem Großinquisitor. Der Sänger wirkte deshalb temperamentlos.“
Bei der „Madama Butterfly“ sollte der Sänger des Kaiserlichen Kommissärs der sehr kleinen, aber schicksalhaften Episode seines Wirkens genügend stimmlichen Nachdruck verleihen. Beim Nachlesen im Spielplanarchiv der Wiener Staatsoper finden wir die Partie eher unterbesetzt. In der Entstehungsgeschichte dieser Oper ist die Rolle der Kate Pinkerton immer mehr verkürzt worden. Wir können es uns nicht erklären, warum wir in der so oft erlebten Oper bei einer Interpretin das Gefühl bekamen, Cio-Cio-Sans Sohn werde einer guten Ersatzmutter anvertraut.
Kann man sich als Hirt oder Steuermann in „Tristan und Isolde“ profilieren? Wir haben den Klavierauszug noch einmal hergenommen. Beim Hirten können wir uns das eher vorstellen als beim Steuermann. Eine undankbare Partie ist die des Notars während des Levers der Feldmarschallin. Im allgemeinen Trubel der vorlauten Gestalten (die lebende Zeitung Valzacchi mit seiner Begleiterin Annina, ein Tierhändler, der Papageien aus Indien und Afrika los werden will, drei bittstellende adelige Waisen, ein um Protektion heischender Sänger) wird ein schwer asthmatischer Notar bei seiner rechtlichen Belehrung von dem ungeduldigen und cholerischen Baron auf Lerchenau jäh unterbrochen. In der Wiener Staatsoper bekam der Bassbariton Wolfgang Bankl in einigen Aufführungen die Gelegenheit nach der Partie des Notars als Polizeikommissär im dritten Akt seine mächtige Stimme unter Beweis zu stellen.
Kleinrollen können für uns Rezensenten ihre Tücken haben. So mussten wir in unserem Bericht über Brittens „Der Tod in Venedig“ in „Klassik begeistert“ gestehen: „Die Anzahl der Figuren ist ziemlich unübersichtlich. Ein Großteil der SängerInnen ist in zwei, drei Rollen eingesetzt. Einige bekannte Namen haben wir im Trubel der Badegäste, der Touristen und der Venezianer wieder erkannt, andere und auch junge Kräfte, auf die wir immer besonders neugierig sind, mussten unwillkürlich untergehen.“ Erleichtert erkannten wir unsren Minister Pang aus der „Turandot“ unter den StraßensängerInnen wieder, unter welchen wir auch eine Erstbegegnung registrierten.
Ein interessantes Erlebnis war einmal, als aus einer Männergruppe, die eine Jugendbande spielte, ein Mitglied des Opernstudios mit einem charakteristischeren und einnehmenderen Timbre als das des Bariton-Protagonisten heraus zu hören war.
Wir wollen mit Vertrauen
Auf Gottes Hilfe bauen.
Die Hoffnung flüstert sanft mir zu:
Wir werden frei! Wir finden Ruh’.
Mit allein diesen vier Versen (Fidelio 1. Akt, 9. Auftritt) haben sich Erich Majkut und Karl Terkal für immer bei uns eingeprägt.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 25. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“