Orpheus mit den Tieren (1931), Wandbild von Anita Rée im Fokine Studio des Ballettzentrums Hamburg – John Neumeier (Wikipedia, gemeinfreies Foto)
5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III
Als wichtigstes Ereignis der 1980er-Jahre ist wohl Neumeiers Kampf um eine eigene Ausbildungsstätte verbunden mit einem Ballettzentrum für das Ensemble anzusehen. Eine bisher an der Oper nicht vorhandene Ballettschule gründete Neumeier 1978, ein Jahr später bezog die Schule die oberen Räume eines Wirtschaftsgebäudes am Dammtor. Nach mühsamen Vertragsverhandlungen gelang es Neumeier den Ersten Bürgermeister und die Kultursenatorin von einer großen Lösung im Hamburger Stadtteil Hamm zu überzeugen.
von Dr. Ralf Wegner
Im November 1980 gelangten in der Hamburger Michaeliskirche Neumeiers Skizzen zur Matthäuspassion nach der Musik von Johann Sebastian Bach erstmals zur Aufführung, im Juni 1981 folgte die Uraufführung des vollständigen Werkes in der Hamburgischen Staatsoper.
Was sich für manche wie ein Sakrileg anfühlte, hatte gleichwohl einen Gottesdienst-ähnlichen Charakter. Während der gesamten Spieldauer befindet sich das einheitlich weiß gekleidete Ensemble auf der Bühne. Einzelne Tänzerinnen und Tänzer übernehmen immer wieder Partien aus der Passion, wie Judas, Petrus oder Herodes. Nur der Tänzer des Jesus wird während der Vorstellung nicht gewechselt. Es ist ein tief beeindruckendes Stück. Man leidet mit Petrus, der sich vor der Menge nicht zu Jesus bekennen mag (Nr. 38) und mit Judas, wenn er seine Tat bereut (Nr. 41). Das Barabbam! des Ensembles geht, verbunden mit der Wirkmächtigkeit der Bach’schen Komposition (Nr. 45) durch Mark und Bein. Die Matthäuspassion sollte die erste von mehreren großen, auf Texten der Bibel basierenden, tief ergreifenden, religiös motivierten Balletten Neumeiers sein.
1981 premierte auch Neumeiers bereits vorher in Stuttgart uraufgeführte Kameliendame. Wir sahen dieses weltweit wohl am häufigsten aufgeführte Neumeier-Ballett erstmalig mit Lynn Charles und Kevin Haigen als Marguerite und Armand. 1982 folgten die Artus-Sage und 1983 Giselle. Wie lange ist das schon her. Nicht zu fassen, Neumeiers modernere Version seines Balletts Giselle ist auch schon 23 Jahre alt. In der alten Fassung sahen wir Lynn Charles und Ivan Liska in den Hauptpartien. Die Bathilde war mit Gigi Hyatt besetzt, mehr als 2 Jahrzehnte später beeindruckte ihre Tochter Emilie Mazoń mit dieser Partie.
Mir gefiel besonders die Artus-Sage, ein recht komplexes Stück aus dem englischen Mittelalter, welches mit Max Midinet als Merlin und dem neu zum Ensemble gestoßenen Tänzer Gamal Gouda besetzt war. Gouda gab der der Rolle des um sein Erbe gebrachten Mordred entscheidendes Profil, Lancelot war mit Kevin Haigen, König Artus mit François Klaus besetzt, Ginevra, Artus’ Ehefrau und Lancelots Geliebte, tanzten Lynn Charles bzw. Colleen Scott.
Im Januar 1985 fand die Uraufführung von Othello auf Kampnagel statt, mit einem unvergesslich beeindruckenden Gamal Gouda in der Titelpartie. Man saß auf Kampnagel im Halbkreis um die Bühne herum und war den Tänzerinnen und Tänzern ganz nah. Der industrielle Charakter der Halle nahm dem Shakespearedrama keineswegs die Kraft, sondern verstärkte sie sogar. Gigi Hyatt erwies sich als hingebungsvolle, fast ätherische und ihr Schicksal kaum begreifende Desdemona. Auch andere Stücke Neumeiers gelangten auf Kampnagel zur Aufführung, aber jetzt schon lange nicht mehr.
1981 bis 1982 bespielte das Hamburger Ballett auch das Operettenhaus an der Reeperbahn, dort sahen wir u.a. Nussknacker, Sommernachtstraum und Dornröschen. Damals bestand die Hoffnung, dass sich das Ballett dort für immer ansiedelt und an der Dammtorstraße nur noch Opern gespielt werden. Leider zerschlug sich dieser Plan und das Operettenhaus wurde zum Musicaltheater (Cats) umgebaut und begründete den touristischen Ruf Hamburgs als Musicalstadt mit mittlerweile fünf großen, mehr als 1.000 Plätze fassenden Bühnen. Auch John Neumeier inszenierte Musicals, so verließen wir 1978 begeistert das Haus nach einer Aufführung von Bernsteins West Side Story, in der u.a. Lynn Charles die Rolle von Anybody und Kevin Haigen jene von Baby John übernommen hatte.
Als wichtigstes Ereignis der 1980er Jahre ist wohl Neumeiers Kampf um eine eigene Ausbildungsstätte verbunden mit einem Ballettzentrum für das Ensemble anzusehen. Eine bisher an der Oper nicht vorhandene Ballettschule gründete Neumeier 1978, ein Jahr später bezog die Schule die oberen Räume des Dammtor-Pavillons, einem 1907 gegenüber vom Dammtor-Bahnhof errichteten Wirtschaftsgebäude. Die Räumlichkeiten waren natürlich viel zu klein, um sowohl die Schule als auch das Ensemble aufnehmen zu können. Nach mühsamen Vertragsverhandlungen gelang es Neumeier den Ersten Bürgermeister und die Kultursenatorin von einer großen Lösung zu überzeugen.
Es sollte die bis 1931 nach Plänen des Architekten Fritz Schumacher im Hamburger Stadtteil Hamm errichtete Caspar-Vogt-Schule sein. Denn diese verfügt neben zahlreichen größeren Räumen über eine Turnhalle, die in etwa den Ausmaßen der Hamburger Staatsopernbühne entsprach. Trotzdem lehnte der Senat zweimal die Pläne für die Umbauten ab, so dass John Neumeier zwecks Realisierung seiner Pläne unter Mitnahme des Ensembles bereits mit einem anderen Opernhaus verhandelte. Endlich passierte das Projekt 1985 den Senat und wurde 1986 auch von der Bürgerschaft gebilligt. 1987 begannen die Umbauarbeiten und im September 1989 konnte das Ballettzentrum eingeweiht werden.
Während der 1980er-Jahre verjüngte sich das Ensemble, Tänzerinnen wie Chantal Lefèvre (Erste Solistin 1981-1999), Bettina Beckmann (1986-1998), Anna Grabka (1987-2001) und Stefanie Arndt (1989-1994) oder Tänzer wie Jeffrey Kirk (1986-1992) und Jean Laban (1988-1995) ergänzten die Gruppe der Ersten Solisten, zu denen auch noch die bereits erwähnten Gigi Hyatt (1986-1997) und Gamal Gouda (1984-1998) gehörten.
Vor allem Chantal Lefèvre blieb in Erinnerung, nicht nur als überzeugende Marguerite in der Kameliendame, sondern auch als Giselle. Damals tanzten aber auch noch Lynn Charles (bis 1986), Colleen Scott (1990) sowie Max Midinet (1987), François Klaus (1991) und Ivan Liska (1997), so dass die Hauptpartien weiterhin von den letztgenannten übernommen wurden. Auch Marianne Kruuse stand noch bis 1985 auf der Bühne.
Das Jahrzehnt endete mit der Uraufführung des Balletts Peer Gynt, in dem Ivan Liska eine seiner Paraderollen auf die Bühne brachte, Gigi Hyatt tanzte Solveig und Anna Grabka beeindruckte als Peers Mutter Aase.
Dr. Ralf Wegner, 22. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Nächste Folge „John Neumeier gewinnt den Ausnahmetänzer Lloyd Riggins für das Hamburger Ballett und engagiert die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček“ – am Dienstag, 2. Januar 2024.
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II klassik-begeistert.de, 19. Dezember 2023