Fotos: August Everding und John Neumeier (aus: Hamburgische Staatsoper, Spielzeit 1974/75; SWR.de 2021)
Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil I
Als John Neumeier 1973 von August Everding nach Hamburg berufen wurde, entließ er erst noch weitere Tänzerinnen und Tänzer, was anfangs zu einem nicht unerheblichen Rauschen in den damals in Hamburg noch angesiedelten Gazetten führte. Neumeier geriet dabei zeitweilig unter öffentlichen Druck, der sich aber schlagartig im nächsten Jahr mit der Aufführung seines ersten großen Handlungsballetts Romeo und Julia legte.
von Dr. Ralf Wegner
August Everding, Intendant der Hamburgischen Staatsoper von 1973 bis 1977, blieb mir mit vier hochkarätig besetzten Operninszenierungen in Erinnerung, einer Elektra mit Birgit Nilsson in der Titelpartie, Leonie Rysanek als Chrysothemis und Astrid Varnay als Klytämnestra unter Karl Böhm (Dezember 1973), Otello mit Plácido Domingo, Katia Ricciarelli als Desdemona und Sherrill Milnes als Jago unter James Levine (1975), Parsifal in den Bühnenbildern von Ernst Fuchs mit Bernd Weikl als Amfortas, Martti Talvela als Gurnemanz, Leonie Rysanek als Kundry und Peter Hofmann als Parsifal unter Horst Stein (1976) sowie ein Lohengrin mit René Kollo in der Titelpartie, Catarina Ligendza als Elsa, Kurt Moll als König Heinrich, ebenfalls unter Horst Stein (Februar 1977).
Everdings Bedeutung für die Hamburgische Staatsoper und Hamburg insgesamt erschließt sich aber nicht mit opulenten Opernaufführungen, die gab es sicher auch anderswo, sondern mit dem Engagement des jungen, aus dem Stuttgarter Ballettensemble hervorgegangenen und seit wenigen Jahren in Frankfurt als Ballettdirektor tätigen US-Amerikaners John Neumeier.
Dafür gebührt Everding ewig Dank, und noch mehr für den Umstand, dass es ihm nicht gelang, Neumeier bei seinem Wechsel nach München in die Bayerische Landeshauptstadt zu locken. Auch andere Angebote wie aus Wien oder auch aus Paris nahm Neumeier nicht an, denn in zähen Verhandlungen mit der Kulturbehörde gelang es ihm stets, in sog. Rufabwendeverhandlungen die Situation des Hamburger Balletts immer weiter zu verbessern, die Unabhängigkeit von der Oper (als eigenständiger Ballettintendant) zu zementieren und eine eigene Ballettschule in einem großzügigen, architektonisch markanten Schulgebäude des Architekten Fritz Schumacher zu etablieren.
Schauen wir zurück: Ballett gab es im Hamburger Opernhaus bereits im Jahre 1678; in den 1840er-Jahren tanzten hier als Gäste die damals hochberühmten Ballerinen Marie TagIioni und Fanny Elßler.
In der Saison 1966/67 verfügte das Ballett der Hamburgischen Staatsoper über eine Primaballerina (Anita Kristina) und einen Danseur étoile (Peter van Dyk), der bis 1970 die Funktion des Ballettdirektors inne hatte, ergänzt von 7 Solistinnen und 6 Solisten sowie 28 Ensembletänzerinnen und 15 Ensembletänzern. Insgesamt zählte das Hamburger Ballett damals schon über 58 Tänzerinnen und Tänzer, also so viel weniger als jetzt mit 62 Tänzerinnen und Tänzern (ohne Gäste, aber mit Aspiranten) auch nicht.
In der Folgezeit reduzierte sich das Ensemble unter der Leitung von Fred Eckhard bis auf 53 Personen (1971/72, darunter Anita Kristina, Eva Evdokimova und Rainer Köchermann; sowie als Gast Rudolf Nurejew).
Als John Neumeier 1973 von August Everding nach Hamburg berufen wurde, entließ er erst noch weitere Tänzerinnen und Tänzer, was anfangs zu einem nicht unerheblichen Rauschen in den damals in Hamburg noch angesiedelten Gazetten führte. Neumeier geriet dabei zeitweilig unter öffentlichen Druck, der sich aber schlagartig im nächsten Jahr mit der Aufführung seines ersten großen Handlungsballetts Romeo und Julia legte.
Das Shakespeare-Drama hatte der neue Ballettdirektor bereits während seiner vorausgegangenen Leitungsfunktion in Frankfurt am Main zur Uraufführung gebracht, und von dort auch zahlreiche neue Tänzerinnen und Tänzer nach Hamburg mitgebracht wie u.a. Marianne Kruuse oder Max Midinet. Das Ensemble bestand damals neben Neumeier selbst aus 50 Tänzerinnen und Tänzern (ohne Gäste), darunter neben den beiden Vorgenannten Beatrice Cordua, Marina Eglevsky, Magali Messac, Persephone Samaropoulo, Salvatore Aiello, Truman Finney und François Klaus.
Bei der Romeo und Julia-Premiere am 6. Januar 1974 tanzte John Neumeier noch selbst den Romeo, neben der unvergleichlichen Marianne Kruuse als Julia. Wir waren nicht dabei.
Das erste Neumeier-Ballett, das mir in Erinnerung blieb, war das ein Jahr zuvor noch in Frankfurt herausgekommene Ballett Daphnis und Cloë, in welchem am 12. Dezember 1973 Marianne Kruuse, Truman Finney, Beatrice Cordua und Salvatore Aiello auftraten. Am 20. Oktober 1974 folgte für uns endlich Romeo und Julia mit Salvatore Aiello und Marina Eglevsky in den Titelpartien sowie Max Midinet als Mercutio.
Dr. Ralf Wegner, 15. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Nächste Folge: „Das Hamburger Publikum kniet vor Ballett-Stars wie dem 1976 engagierten Kevin Haigen“ erscheint am Dienstag, 19. Dezember 2023.
Romeo und Julia, Ballett, John Neumeier Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 9. November 2023
Ballett Nijinsky von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 31. Oktober 2023