Bild: Wiederaufbau der Feststiege Quelle: Wiener Staatsoper GmbH
von Lothar Schweitzer
Die Familie des Autors hat die amerikanische und die sowjetische Besatzungsmacht hautnah erlebt und ihre Erfahrungen brachten einige Überraschungen. Waren die Russen besser als ihr Ruf? Wie die Wiener die Bombardierung ihrer Oper verkrafteten, erfahren Sie gleich im ersten Absatz.
Als Arbeitstitel dieses Artikels wurde mir vorgeschlagen: Als Kind in den Trümmern des Nachkriegswien. Dies kam mir zu düster vor. Wohl gab es in vielen Straßen Ruinen mit Bergen von Ziegeln, aber Wien ist im Vergleich zu deutschen Städten wie, um nur einige zu nennen, Köln, Berlin und Dresden, glimpflich davongekommen. Selbst in München Ende der Sechzigerjahre sah ich noch mehr Bombenspuren, wo in Wien keine mehr zu sehen waren.
Wir sahen in New York die Zerstörungen im World Trade Center und die geschockten Augen der einheimischen Passanten, die ja nie einen Bombenkrieg erlebt hatten. Ich kann die Demoralisierung der Wiener nachempfinden, als die Staatsoper getroffen wurde. Ich vermute, seit dem Augenblick hat niemand mehr in dieser Stadt, auch nicht eingefleischte Nationalsozialisten, an einen Endsieg geglaubt.
Der Wiener Stephansdom ist nicht, wie oft behauptet wurde, zerbombt worden. Er fing Feuer durch einen Funkenflug eines andren zerbombten Hauses. Eine gute Fliegerabwehr hatte ihre Nachteile. Die Piloten wollten schnell wieder wegkommen und warfen einfach irgendwo die Bomben ab.
Die Dächer der Theater ähnelten noch dazu der Architektur der Bahnhöfe. Es könnte die Staatsoper mit dem in der Richtung gelegenen Südbahnhof verwechselt worden sein.
„Pass auf, wenn du mit dem Rad fährst, die amerikanischen Autos sind sehr leise!“ warnte mich meine Mutter. Wir wohnten in einem Bezirk, der von den US-Amerikanern besetzt war. Ihre Cadillacs und Chevrolets machten wirklich kaum ein Motorengeräusch im Gegensatz zu unsren Steyr-Autos. Sie hatten für damalige Begriffe auch ausgefallene Farben wie violett oder rosa.
Eine Mitarbeiterin in meiner Apotheke, die den Hang zum Fraternisieren hatte, spielte den Altersunterschied zwischen ihr und mir gern herunter, bis ich sie einmal fragte, an welche Erfahrungen sie sich in der Besatzungszeit erinnern kann. Da musste sie dann einen Rückzieher machen.
Auch die Wohnung meiner Eltern haben die „Amis“ einige Jahre in Beschlag genommen. Denn sie war im Halbstock, Mezzanin genannt, mit einigen Stufen bequem erreichbar, und einen Aufzug gab es damals in dem Haus noch nicht. Man durfte kein Mobiliar entfernen und meine Eltern hämmerten mir ein, bei der Bestandsaufnahme ja nicht zu erwähnen, dass in den Zimmern früher Teppiche gelegen sind, sonst kann ich meine Eltern nur mehr im Gefängnis besuchen. Tatsächlich wurden diese in einer Nacht-und-Nebelaktion auf Schlitten – die Winter waren damals noch schneereich – zu einer Freundin gefahren.
Eingeschüchtert und übervorsichtig habe ich mich dann, als die Männer kamen, um das Inventar in Listen aufzunehmen, unter den Tisch verkrochen. Es war bei uns die Familie eines Unteroffiziers einquartiert und in regelmäßigen Abständen hat meine Mutter sie besucht, um zu demonstrieren, wer eigentlich der Mieter dieser Wohnung ist. Als Begleitung wurde ich im Kindergartenalter Augenzeuge. Aus Bequemlichkeit verzichteten sie auf ein eigenes Badezimmer, um die Kohlen nicht immer vom Keller herauf zu schleppen. Meine Mutter zeigte mir diskret die Pinkelspuren ihrer Hunde an den Wänden.
Vor den Amerikanern, den Briten und den Franzosen marschierten die Russen 1945 in Wien ein. Sie okkupierten u.a. das Haus, in dem meine Großmutter und meine Tante eine Wohnung gemietet hatten. Die folgende Geschichte hörte ich immer wieder, weil sie so oft Bekannten erzählt wurde.
Meine Tante Hertha war sehr couragiert und erklärte dem einziehenden Kommandanten, sie werde jeden Abend kommen und schauen, ob alles in Ordnung ist. Die Russen gewöhnten sich an die Besuche, bei denen auch viel über Politik und Religion diskutiert wurde. War einmal meine Tante zu müde, um noch anzuläuten, riefen sie per Telefon besorgt an, ob Frau Doktorin krank sei. Einmal klingelte um Mitternacht das Telefon. Die Frau Doktorin sollte unbedingt, sofort und allein herüber kommen. Ihr Vater, mein Opa, begleitete sie bis zum Haustor. Drinnen im Haus herrschte gedrückte Stimmung. Die Mannschaft wurde in die Sowjetunion zurückbeordert. Der Kommandant führte meine Tante durch die Wohnung, um zu zeigen, dass alles auf dem richtigen Platz steht. Dann übergab er ihr den Schlüssel. Was nichts nützte, denn am nächsten Tag zog eine neue Besatzung ein, mit der nichts anzufangen war.
Ich selbst habe oft bei meiner Großmutter übernachtet und kenne das Mobiliar mit herausgebrochenen Schlössern. Etwas hat die erste Besatzung doch mitgehen lassen, was sich später herausstellte.
Eine altösterreichische Kaiserschützenuniform meines Großvaters, als Andenken.
Die Russen konnten unberechenbar sein. In den Gemeindebezirken der russischen Besatzungszone begleiteten sehr vorsichtige Väter ihre heranwachsenden Töchter zwecks Gefahr einer Vergewaltigung zur Schule. Die Russen wirkten armselig, konnten den jungen Frauen nicht das an Köstlichkeiten bieten, womit die Amerikaner bei den Mädchen gut ankamen. Es gab aber unter den Soldaten einen Ehrenkodex. Frauen mit kleinen Kindern wurden nicht behelligt. Man hörte auch von Verschleppungen, was wir Buben in den sicheren anderen Besatzungszonen gerne nachspielten. Die Russen hatten Respekt vor tapferem Verhalten.
Begegnete man einer Gruppe von Soldaten im Wald, so hatte man ihnen in die Augen zu schauen und grüßend vorbeizugehen. Schlecht verhielten sich Leute die, um eine Begegnung zu vermeiden, in die Heidelbeersträucher auswichen. Da bekamen die Männer Lust einen zu erschrecken. Wieviel geistiges Potential in dem Volk steckte, merkte man an folgender Erzählung meiner Eltern: Amerikaner setzten Englischkenntnisse der Wiener voraus. Russische Soldaten erschienen in der Apotheke mit Wörterbüchern und strahlten über jeden Satz, der ihnen auf Deutsch gelang. Die Bezeichnung Russen ist ungenau, denn dieser eurasische Staat ist auch heute noch ein Vielvölkerstaat. Ich beobachtete viele Soldaten mit fremdartigem Aussehen, deren geschulterte Gewehre fast so groß waren, wie sie selbst.
Zum Schluss noch eine Begebenheit. Zwischen den Bundesländern Niederösterreich und der von den Briten besetzten Steiermark, bzw. zwischen Nieder- und dem amerikanischen Oberösterreich verlief die sogenannte Demarkationslinie. Dort fanden von den Russen Grenzkontrollen statt. Wenn meine Eltern und ich im Sommer mit der Eisenbahn auf Urlaub nach Kärnten fuhren, mussten wir diese passieren.
Mein Vater hatte in seinem Ausweis als Sohn einer altösterreichischen Beamtenfamilie als Geburtsort Czernowitz eingetragen, was damals zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörte. Mit sehr gemischten Gefühlen trat er die Reisen nach Kärnten an. Aber er kannte die Russen als Besetzer von Czernowitz im ersten Weltkrieg als kinderlieb, die ihn und seine Freunde auf ihren Pferden reiten ließen. So wurde inszeniert, dass während der Kontrolle mein Vater seinen Arm um mich legte. Nachher war noch einmal Besprechung, was man besser machen könnte. Ich hatte auf den Boden geschaut und den Soldaten nicht angelächelt.
In der Biografie Ira Malaniuks „Stimme des Herzens“ 2. Teil (Schweitzers Klassikwelt 20) wird spannend beschrieben, wie die ukrainische Mezzosopranistin aus dem Zug geholt wurde und die Rolle einer Polin spielen musste, um nicht irgendwo in Sibirien zu verschwinden.
Ira Malaniuk – Stimme des Herzens: Autobiographie einer Sängerin, Teil 1
Ira Malaniuk: Stimme des Herzens – Autobiographie einer Sängerin, Teil 2
Lothar Schweitzer, 9. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Teil 2 – Wie ich als Kind die Nachkriegszeit erlebte Teil
erscheint Mittwoch, 10. April 2024