Omer Meir Wellber greift in die Wundertüte: Orient und Okzident umarmen sich in Kiel

SHMF Omer Meir Wellber, Leitung und Akkordeon  Kiel, Petruskirche, 10. Juli 2025 

Foto: Gruppenbild Ensemble Photo Esther Bredenbeck

Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals

Wer sich auf ein herkömmliches Konzert und strikte Einhaltung des im Programmheft aufgeführten Ablaufs eingestellt hatte, der wurde am 10. Juli 2025 in der Kieler Petruskirche aufs Lebhafteste überrascht. Omer Meir Wellber ist ein Meister der Improvisation und charmanter Grenzüberschreiter in vielerlei Hinsicht.

Kiel, Petruskirche, 10. Juli 2025

Werke von Georg Friedrich Händel, Wolfgang Amadeus Mozart, Gioacchino Rossini, Giuseppe Donizetti, Cenk Erdoğan u. a.

Omer Meir Wellber, Leitung und Akkordeon
Mert Süngü, Tenor
Cenk Erdoğan, E-Bow und Gitarre
Streicherensemble der Volksoper Wien

von Dr. Andreas Ströbl

Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen!

Das berühmte Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes „West-östlichem Divan“ von 1819 ist in jüngster Zeit wieder aktuell geworden. Ob allerdings Kulturen mit Gewalt aufeinanderprallen oder einander bereichern, liegt allein in unser aller Hand. Wie wertvoll die Kenntnis der eigenen Kultur und der anderer Regionen, damit der dort lebenden Menschen ist, zeigt immer wieder die Musik. Kluge und phantasievolle Köpfe wussten schon immer, dass eine Öffnung von Seele und Ohren gerade im Bereich des Miteinander-Musizierens nicht nur neue Klangräume erleben lässt, sondern vor allem eines schafft: hörbare Lebensfreude!

Omer Meir Wellber und die Solisten wie auch das Streichquartett der Volksoper Wien bezauberten in der ausverkauften Petruskirche, seit Jahren Veranstaltungsort des SHMF, durch Virtuosität und vor allem einen sichtbaren Spaß am Musizieren. Am besten ließ man das Programmheft beiseite, dann das gab eher eine grobe Orientierung, da die Künstler sich die Freiheit nahmen, alles ein bisschen locker zu sehen – was der Freude am Zuhören keinen Abbruch tat, ganz im Gegenteil!

Solisten öffnen musikalische Grenzen

Mert Süngü ist ein Operntenor, der aber auch locker in andere Genres springt. Ob Arien aus Händels „Tamerlano“ oder die Baumeisterarie aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“, später dann beispielsweise das türkische Volkslied „Uzun ince bir yoldayım“ oder Rossinis Tarantella „La Danza“, die beide eher durch folkloristische Klänge wirken – der Sänger beherrscht die unterschiedlichsten Stile und Ausdrucksformen. Reizvoll ist sein zweifacher Gang durch das Mittelschiff, in dem er singend durch die Reihen schreitet; er spielt mit dem Kirchenraum und der Wirkung von nah und fern. Die Akustik dieser Kirche ist ausgesprochen konzertgeeignet, denn die Baustoffe Holz und Stein sorgen für verminderten Hall und einen warmen Raumklang.

Wenn Cenk Erdoğan auf seiner verstärkten akustischen Gitarre oder mit dem E-bow dem Instrument eine Mischung aus orientalisierenden und Elektro-Tönen entlockt, entsteht eine ganz besonderes, reizvolles Klangbild mit changierenden, glissandierenden Linien. Mal erinnert es an ein Theremin, jenes 1920 erfundene elektronische Instrument, mal an die Flöte Nay – auch hier werden schon rein akustisch Grenzen überschritten. Erdoğan ist auch Komponist; sein „Mornings of Istanbul“ eröffnet Blicke in und Erinnerungen an eine quirlige Metropole, die einst noch viel kosmopolitischer war. Allein der Ortsname geht auf einen griechischen Wegweiser zurück: „eis tḕn pólin“ heißt nichts anderes als „in die Stadt“.

Ein Zitat aus Joaquín Rodrigos „Fantasía para un gentilhombre“ schlägt die Brücke nach Spanien, dessen Musik wiederum ohne die maurischen Einflüsse nicht denkbar wäre.

Wellber, Erdoğan und Süngü Photo Regina Ströbl

Wer ist eigentlich Giuseppe Donizetti?

Kaum bekannt ist auch den meisten Musikliebhabern der Bruder des berühmten Gaetano Donizetti, der etwas ältere Giuseppe. Nach einer Anstellung als Militärkapellmeister, unter anderem auf Elba und Sardinien, empfahl man ihn dem türkischen Sultan Mahmud II. zur Neuorganisation der Hofkapelle und so wurde er Generalmusikdirektor am Hof von Konstantinopel. Er reformierte die Kapelle, bereicherte sie um abendländische Instrumente und führte die westliche Notenschrift ein. Donizetti war wesentlich an der Gründung der ersten Musikschule im Osmanischen Reich im Jahre 1832 beteiligt, an der er Flöte, Klavier, Instrumentation und Harmonielehre unterrichtete. Besonders am Herzen lag ihm die Pflege des Karagöztheaters, des traditionellen türkischen Schattenspiels, und die Integration der klassischen türkischen Musik in die offizielle Ausbildung seiner Schüler.

Das heutige Symphonieorchester des türkischen Präsidenten geht auf die ehemalige Palastkapelle zurück. Donizetti veranstaltete im Harem des Sultans Konzerte mit abendländischer Orchestermusik und italienischen Opern; er unterrichtete auch Prinzen und Haremsdamen. Der Nachfolger von Mahmud II. war Sultan Abdülmecid I., dessen Begeisterung für westliche Musik die seines Vorgängers noch übertraf, weswegen er sie fest in die urbane Kultur im Osmanischen Reich integrieren ließ. Für seine Verdienste erhielt Donizetti den Titel „Paşa“ (gesprochen „Pascha“), der nur den ranghöchsten Zivilbeamten und Militärs vorbehalten war. Gaetano nannte daraufhin Giuseppe humorvoll seinen „türkischen Bruder“.

Von ebendiesem „türkischen“ Donizetti erklingt unter anderem „Air Turc“, gespielt vom Omer Meir Wellber am Flügel, ein stellenweise wehmütiges Stück, das neapolitanische Elemente mit orientalischen Versatzstücken harmonisch verbindet.

Die Wiener Streicher bilden zu all den Stücken weit mehr als nur das orchestrale Bett; es sind allesamt phantastische Musiker von solistischem Können, und wer in ihre Gesichter blickt, sieht darin die große Freude am Musizieren. Man applaudiert einander gegenseitig, niemand tut sich hervor.

Erst die zweite Zugabe, dann die erste und dritte – wen kümmert das schon?

In wundervoller Selbstironie nehmen die Musiker ihre eigene liebenswert chaotische Spontaneität auf die Schippe und spielen erstmal eine „zweite Zugabe“, dann gibt´s noch mehr. Unter anderem ertönen ein türkischer Tango von 1928 und „Adio Kerida“ von Yasmin Levy; den Abschluss bildet ein hebräisches Gebet, in dessen Refrain als harmonisches Gruppenerlebnis das Publikum einstimmen darf.

Ensemble Photo Andreas Ströbl

Haben nicht auch die türkischen Volkslieder zu Beginn des zweiten Teils ein wenig an Synagogengesang erinnert? Es ist ja doch ein komplexer Kulturkreis mit musikalischen und inhaltlichen Querverweisen nach Mitteleuropa, und all diese Aspekte umarmen Wellber und die Mitwirkenden – von Deutschland, England, Österreich und Italien an die Gestade der Levante, nach Istanbul und gerne immer wieder im Zickzack-Kurs durch die Kulturen und Stile.

Ebenso wie Orient und Okzident sind am Ende Mitwirkende und Publikum im gemeinsamen Musizieren nicht mehr zu trennen. Davon kann die Welt lernen!

Dr. Andreas Ströbl, 12. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Eröffnungskonzert Schleswig-Holstein Musik Festival MUK Lübeck, 6. Juli 2025

Lesung mit Musik im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals, Elke Heidenreich, Marc-Aurel Floros, Klavier Kuhstall Gut Pronstorf, 14. August 2024

Claudio Monteverdi, Marienvesper, Schleswig-Holstein Musik Festival Lübecker Dom, 9. August 2024

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