Foto: © Sandra Ludewig
Simone Kermes Sopran
La Magnifica Comunità
Ludovico Tambara Tanz
Tommaso Marchignoli Tanz
»Love« – Liebesszenen aus Werken von Claudio Monteverdi, Antonio Cesti, Carlo Mannelli, Henry Purcell, John Dowland
Elbphilharmonie, 9. April 2017
von Leon Battran
Fast kam dieses Konzert einem kleinen Kulturschock gleich – so viele bunte Eindrücke hat Simone Kermes dem Publikum in der Elbphilharmonie beschert. Emotionsgeladene Arien, dazu drei verschiedene Outfits und zwei sportlich hopsende Balletteleven. Es gab Zugaben zum Mitklatschen und Mitsingen. Ein Konzertabend irgendwo zwischen hehrer Klassik, spritzigem Pop und ZDF-Fernsehgarten. Und am Ende kommt man nicht umhin, festzustellen: Die Kermes hat Charakter!
Zur Eröffnung erklingt eine Minnevertonung von Antoine Boësset: tanzbare Musik, die das Ensemble mit trommlerischer Unterstützung darbietet. Die Komposition lässt den französischen Barock für die Zuhörer lebendig werden. Die Melodiephrasen sind markant, die Komposition eingängig und schön. Simone Kermes singt mit unverkennbar klarer Stimme. Intonatorisch groovt sie sich aber noch ein. Das Kammerorchester La Magnifica Comunità spielt teilweise noch etwas zurückhaltend. Dass diese Musiker Pfeffer haben, ist aber bereits spürbar.
Zwei Jungs in Aladdin-Hosen tanzen eine Choreographie, die szenisch auf die Musik abgestimmt ist. Sie vollführen Sprünge, schlagen Purzelbäume und umschwärmen die Sopranistin – Die Darstellung pendelt zwischen Ausdruckstanz, Akrobatik und Breakdance. Ein großes goldenes Stück Stoff dient den Boys als multifunktionales Requisit. Sie verkriechen sich darunter in eine muckelige Höhle und wickeln auch die Sängerin darin ein. Durch schnelles Schwingen taugt es sogar als Windmaschine.
Das ist ein wenig gewöhnungsbedürftig und kann auch manchmal stören. Vor allem bei den ruhigeren Stücken lenkt die Tanzperformance leider ab und stellt sich wie eine Barriere zwischen Musik und Zuhörer. Andere Stücke verlangen hingegen geradezu nach körperlicher Zelebration wie das peppige Arrangement von Ay amor loco des Galiziers Luis de Briçeño. Hier gehen Tanz und Musik eine fruchtbare Symbiose ein – die Komposition ist rein gesanglich aber auch nicht besonders aufregend.
Musikalisch hat die erste Konzerthälfte kleinere Schwächen. Monteverdis Madrigal Amor, amor fehlt es an Abwechslung. Die gesamte Komposition baut auf einem Lamentobass auf, einer schrittweise abwärts geführten Melodielinie von der ersten zur fünften Stufe, die fortlaufend wiederholt wird. Hier vermisst man die übrigen Stimmen des ursprünglich vierstimmigen Vokalsatzes Monteverdis. Simone Kermes‘ Sopran klingt zuweilen etwas kühl und verloren durch den Großen Saal.
Später gelingt vieles besser. Da gab es auch Momente, in denen alles stimmte. Bei dem spanischen Lied Frescos ayres del prado wird auf Gehampel und Gezappel verzichtet. Kermes ist hier ganz nah bei dem Ensemble, singt von Ruhelosigkeit und Sehnsucht. Boëssets Komposition erklingt berührend weich, die Melodie ist zwar schlicht, steckt jedoch voller Expressivität.
Attaca geht es direkt ins nächste Stück: Tarquinio Merulas Strophenlied Chi vuol ch’io m’innamori strahlt intime Melancholie aus. Simone Kermes singt allein von der Laute begleitet – unaufgesetzt und feinfühlig, die Stimme ist kein Selbstzweck, sondern wird zum reinen Träger von Emotion.
Und dann kommen sie auch, die schwindelerregenden italienischen Koloraturarien: Vivaldi, Manelli, Cesti, Broschi. Der Konzertabend nimmt an Fahrt auf. Die Musiker stehen allesamt unter Strom, lassen die Streicher dramatisch tremolieren. Simone Kermes ist ganz in ihrem Element und bewältigt auch sängerischen Hochleistungssport wie die ständigen Lagenwechsel in Riccardo Broschis Qual guerriero in campo armato. Die Boys bleiben währenddessen brav auf der Erde liegen, dieser Moment gehört allein der Sopranistin.
Nicht jede Koloratur perlt blitzsauber, trotzdem zeigt Kermes mit dieser Broschi-Arie die bisher stärkste Leistung des Abends. Denn was viel wichtiger ist: Sie fühlt sich wohl. Den Großen Saal der Elbphilharmonie füllt sie mit ihrer Stimme nun bis an die Decke aus und macht ihn zu ihrem Wohnzimmer. Mit einer wahnsinnshohen Note entlässt sie das Publikum in die Pause. Krass! So möchte man die Kermes hören und sehen.
Das Ensemble La Magnifica Comunità legt gleichsam eine feurige Leidenschaft für Alte Musik an den Tag. Die einzelnen Stimmen fließen organisch ineinander. Ein besonderes Glanzlicht: Pietro Modesti spielt mit Raffinesse den Zink, ein historisches Blasinstrument von eher eigenwilligem blechernem Klang. Er entlockt ihm jedoch die wohligsten Töne und entfaltet einen durchdringenden, nahezu hypnotischen Klang.
Antonio Vivaldis Triosonate op. 1 Nr. 12 beruht auf einer Folia, einem im Barock sehr beliebten Variationsmodell. Die Musici holen aus dem Ostinato-Schema alles heraus: Es fegen stürmische Figurationen über die Saiten, das Cembalo brodelt und der Cellist hüpft richtig hoch auf seinem Stuhl. Die zarten Passagen kommen mit viel Gefühl für Melodiegestaltung daher. Die Konzertmeisterin Isabella Longo lässt ihre Violine bisweilen so herzergreifend singen, dass sie sich locker mit Simone Kermes messen kann. Wenn auch technisch nicht immer hundertprozentig sauber, ist das wirklich meisterhaft und vor allem mitreißend und voller Leidenschaft gespielt.
„Haben Sie noch Lust?“, ruft Simone Kermes nach Ende des Programms. Sie hätte auch fragen können: „Könnt ihr noch?“ oder „Habt ihr noch Bock?“ – und ja, die Leute haben. Einmal Farinelli, bitte! Kermes animiert zum Mitklatschen, warum auch nicht? Die heute erklungenen Arien und Lieder waren schließlich schon zu ihrer Entstehungszeit in erster Linie dazu gemacht, zu unterhalten. Ein unverkrampfter Umgang mit dem Repertoire, wie Simone Kermes ihn pflegt, erscheint insofern durchaus angemessen.
Die Sopranistin wirkt nun sichtlich gelöst. Die virtuos steile Arie meistert die „Drama-Queen“ mit fantastischer Leichtigkeit, so singt Simone Kermes wohl auch unter der Dusche. Die Leute klatschen dazu in bester „Fernsehgarten“-Manier. Fehlt nur noch, dass Helene Fischer ausgepackt wird – und tatsächlich! Glauben sie nicht?
„Möchten Sie noch etwas haben?“, fragt die Sopranistin, „Was von Bach? Ok!“ Spätestens jetzt wird klar, die Kermes ist echt lustig. Gemeint ist nämlich nicht Johann Sebastian, sondern Kristina Bach, die Texterin von Helene Fischers generationsübergreifendem Riesenhit Atemlos. „Ich wollte diesen Song einfach machen, in meiner eigenen Version mit barocken Verzierungen“, hat die Sopranistin klassik-begeistert.de im Anschluss verraten. Beim Publikum kommt das bombig an: Einer jungen Frau in Block I entweicht ein spitzer Schrei des Erstaunens. Teils gibt es auch irritierte, ungläubige Blicke, nicht alle applaudieren, aber der Großteil ist hellauf begeistert.
Jetzt erscheint alles möglich: „Königin der Nacht!“, wird aus dem Auditorium gefordert. „Königin der Nacht hab ich doch gerade erst gesungen!“, entgegnet Kermes. Einen hat sie aber noch in petto: Marlene Dietrichs Friedenshymne „Sag mir wo die Blumen sind“. 2000 zum Teil wildfremde Menschen halten sich bei den Händen und singen gemeinsam mit Simone Kermes.
Auch an der U-Bahn-Station hört man nachher noch jemanden singen: „Sag mir wo die Blumen sind. Wo sind sie geblieben…“. Danke, liebe Frau Kermes, für einen Konzertabend mit Nachhall.
Leon Battran, 12. April 2017 für
klassik-begeistert.de