Foto: Haupteingang der Kölner Philharmonie mit Kölner Dom © KölnMusik/Guido Erbring
Auf die Bühne tritt George Benjamin und das Publikum bekommt einen bleibenden Einblick in die harte Arbeit vor der glanzvollen Aufführung beim PhilharmonieLunch Late Night. Ausgewählte Proben des Gürzenich-Orchesters Köln und des WDR Sinfonieorchesters erlebt man in Köln als PhilharmonieLunch donnerstagmittags bei freiem Eintritt. Gestern fand eine solche öffentliche Probe erstmalig am späten Abend statt – Late Night. Unter der Leitung des Komponisten George Benjamin selbst konnte man spannende Einblicke in sein Werk „Dream of the Song“ gewinnen.
PhilharmonieLunch Late Night, Kölner Philharmonie, 13. April 2023
Sir George Benjamin „Dream of the Song“
für Countertenor, Frauenchor und Orchester.
Texte von Ibn Gabirol, Samuel HaNagrid und Federico García Lorca
Cameron Shahbazi, Countertenor
Chorwerk Ruhr
Gürzenich-Orchester Köln
Sir George Benjamin, Dirigent
von Petra und Dr. Guido Grass
Donnerstagmittag in der Kölner Altstadt: Die Philharmonie lädt zum Lunch ein. Serviert wird eine Konzertprobe des Gürzenich-Orchesters Köln oder des WDR Sinfonieorchesters. Eingeladen sind alle Menschen ab 3 Jahre – keine Tickets, kein Programmheft, keine Abendgarderobe. Der 30-minütige Ohrenschmaus wirkt appetitanregend. Wenn dann der „Chefkoch“ am Pult noch einige Rezeptgeheimnisse preisgibt, steigert sich der Genuss und die Gäste werden zum abendlichen „Dinner“ wiederkehren – so die Hoffnung der Veranstalter.
Eine grandiose Idee, die in Köln seit vielen Jahren auf regen Zuspruch stößt. Was geboten wird, ist immer ein Überraschungsmenü: harte Arbeit, von Takt zu Takt bis zur Durchspielprobe, die dem Publikum ein Gratiskonzert beschert, ist alles möglich. Nun also erstmalig PhilharmonieLunch zur späten Abendstunde, um 21 Uhr serviert – PhilharmonieLunch Late Night.
Late Night klingt wie ein Versprechen für Partygänger und Clubbesucher. Und in der Tat sind im Publikum am heutigen Abend deutlich mehr Menschen zwischen 20 und 40 vertreten als sonst.
Die 2014/15 entstandene Komposition „Dream of the Song“ von Sir George Benjamin wurde in Amsterdam 2015 uraufgeführt. In Köln ist sie nun erstmalig zu hören. Sie ist geprägt von interessanten Gegensätzen. Die Besetzung ist mit Countertenor, Frauenchor, 2 Vibraphonen, 1 Glockenspiel, 2 Gongs, 2 Paar große Becken, 2 Harfen, 4 Hörnern, 2 Oboen und Streichern ungewöhnlich, ergibt jedoch lebendige Effekte.
Die sechs Lieder haben teils einen sehr unterschiedlichen Charakter. In den ersten beiden Liedern, „The Pen“ und „The Multiple Troubles of Man“ und in Lied V „The Gazelle“, welches nicht Gegenstand der Probe war, wird der Text vom Countertenor in Orchesterbegleitung vorgetragen. In den anderen Liedern fügt sich der Frauen-Kammerchor in die Musik ein. Die vom Countertenor gesungenen Zeilen gehen auf andalusische Texte des 10ten und 11ten Jahrhunderts zurück, die ins Englische übertragen wurden.
Demgegenüber singt der Chor spanische Texte des Dichters Federico García Lorca aus dem 20ten Jahrhundert. Das dritte Lied „Gazing Through the Night“ lebt in besonderem Maße von den Kontrasten. An ein Uhrwerk erinnern die von den Streichern pizzicato gespielten Noten, während die Hörner, die gestrichenen Töne der Vibraphone und der Chor einen lyrischen Teppich ausbreiten, der jedoch nie den Eindruck eines Klangbreis entstehen lässt. Für uns beide ein Höhepunkt des Werks. Leider war es uns nicht vergönnt, in der Probe auch einen Eindruck vom fünften Lied „The Gazelle“ zu bekommen, das vom Komponisten als Liebeslied bezeichnet wurde.
George Benjamin begrüßt das Publikum sehr einnehmend in deutscher Sprache, sich gleich entschuldigend, dass er die Probe wegen seiner mangelnden Deutschkenntnisse in Englisch leiten müsse. In schwarzem T-Shirt und schwarzer Jeans kommt der Sir offensichtlich nicht nur beim zahlreich erschienenen Publikum, sondern auch beim Orchester und dem Chor als Sympathieträger an.
Die ersten Takte erklingen, der Countertenor hebt an, doch bevor man sich ganz in den Klang seiner Stimme einwiegen kann, bricht Benjamin schon ab: „You are in trouble“.
Stühle werden gerückt, das Pult verschoben. „Sorry for that“, aber Ordnung muss sein, denn was nützt das beste Dirigat, wenn der Sänger es nicht sehen kann. Die Spannung steigt beim Publikum und endlich beginnt der Traum.
Sehr präzise Bewegungen des Taktstocks halten die Musiker selbst bei dieser ersten gemeinsamen Probe im Verlauf gut zusammen. Benjamin versteht es mit freundlichen Worten den Musikern schier Unmögliches zu entlocken. Der bemerkenswerte Chor junger Frauen muss den Gesang schwedischer Kuhhirtinnen imitierend, wie Benjamin erklärt, tief in der Kehle singen und dennoch den großen Raum mit textverständlichem Gesang füllen.
Kein Wunder, dass die eine oder andere Sängerin dem Dirigenten signalisiert, wo die Grenze des Machbaren liegt. Leichte Verzweiflung auch bei den Percussionisten, die aufgefordert werden, die Harmonics, die am Vibraphon gestrichenen Obertöne, kräftiger zu spielen. Den Einwand, dass dies bei den verschiedenen Registern doch sehr schwierig sei, entgegnet er entwaffnend mit einem charmanten „I can’t allow you to change the notes“.
Countertenor Cameron Shahbazi gelingt es sich immer wieder mit seiner Stimme über den Klang des Chores und des Orchesters zu setzen. Sicher ist bezüglich der Textverständlichkeit noch Luft nach oben. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass es sich um die erste Probe handelt und die Kraft gut eingeteilt sein möchte. Wir sind sicher, dass er bei der Aufführung brillieren wird.
Am Ende des Abends ist klar, warum George Benjamin Anfang des Jahres zurecht mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde. Er komponiert keine (leider) allzu oft gehörte reine „Sound Art“, sondern Musik, die einen zu fesseln vermag, wenn man sich hierauf einlässt. Eine weitere Erkenntnis des Abends: Eine öffentliche Probe vermag mehr Verständnis für die Musik zu vermitteln als eine übliche Konzerteinführung, erst recht bei zeitgenössischer Musik.
Petra und Dr. Guido Grass, 15. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at