Die Unmittelbarkeit des zu Hörenden fasziniert. Es öffnet sich ein Zeitfenster in eine versunkene Welt. Das New York des beginnenden 20. Jahrhunderts und sein verwöhntes Opernpublikum ist durch den mitgeschnittenen Applaus dokumentiert und wird für Augenblicke wieder lebendig.
von Peter Sommeregger
Die Sopranistin krönt das Finale von Gounods Faust mit einem strahlenden, lange gehaltenen hohen c, frenetischer Applaus rauscht auf. Was daran ungewöhnlich ist? Diese Aufführung fand am 15. Februar 1902 an der Metropolitan Opera New York statt. Zu dieser Zeit war es zwar bereits möglich, Tonaufnahmen auch von Gesangsnummern herzustellen, dies war aber nur im Studio mit Klavierbegleitung möglich.
Der damalige Bibliothekar des New Yorker Opernhauses, Lionel Mapleson war technisch sehr interessiert. Im Jahr 1900 kaufte er einen Edison Home Phonographen, ein Gerät mit dem man Tonaufnahmen auf Zylindern speichern und auch wieder abspielen konnte. Anfangs versuchte er, bei laufender Vorstellung aus dem Souffleurkasten heraus aufzunehmen, wechselte aber schnell zum Schnürboden des Hauses, der ihm für diese Zwecke geeigneter erschien. Auf diese Weise entstanden zwischen 1901 und 1904 insgesamt über hundert Zylinder mit Ausschnitten aus Opern des damaligen Repertoires des Opernhauses.
In diesen Jahren war die Creme der internationalen Gesangstars an der New Yorker Met tätig. Manche dieser gefeierten Sänger schlossen in den folgenden Jahren Verträge mit Schallplattenfirmen ab, und nahmen Teile ihres Repertoires für das neue Medium auf. Mitschnitte von Live-Aufführungen mit Orchester wurden aber erst Jahrzehnte später möglich. Einige der auf diesen Zylindern verewigten Künstlern haben aber niemals kommerzielle Aufnahmen gemacht, diese kurzen, oft nur minutenlangen Schnipsel sind so die einzigen Dokumente einst weltberühmter Stimmen.
In anderen Fällen wurden Stimmen in ihren besten Jahren dokumentiert, die bei späteren Studioaufnahmen schon viel von ihrer Qualität verloren hatten. Die Liste der so Verewigten liest sich wie ein who’s who der damaligen Sängerprominenz. Allen voran die Brüder de Reszke: Jean, der Welt berühmtester Tenor, und sein Brüder Edouard mit der Stimmlage Bariton. Milka Ternina, vom Balkan stammend, und später eine der Lieblingssängerinnen Toscaninis: Lilian Nordica, die gefeiertste Wagner-Sopranistin ihrer Zeit, die es als Amerikanerin sogar bis zu den Bayreuther Festspielen schaffte.
Ebenso vertreten sind die beiden deutschen Tenöre Georg Anthes und Andreas Dippel, letzterer später zeitweiliger Direktor der Metropolitan Opera. Die legendäre Nellie Melba, die aus Deutschland stammende Johanna Gadski, Emma Calve, Ernestine Schumann-Heink und Louise Homer sind ebenso vertreten, wie Marcel Journet und Antonio Scotti, um nur die Bekanntesten zu nennen.
Aus nicht überlieferten Gründen stellte Mapleson bereits 1904 seine wohl nur inoffizielle Aufnahmetätigkeit wieder ein. Bis in die 1930er Jahre gerieten die Zylinder in Vergessenheit, 1937 fertigte William H. Seltsam, der Leiter des International Record Collectors Club (IRCC) erstmals eine Überspielung auf Schellackplatten an. Die Originale befinden sich heute im Rodgers and Hammerstein Archives of Recorded Sound, einer Abteilung der New Yorker Public Library, die 1985 eine Box mit sechs Vinyl-Schallplatten, inklusive eines umfangreichen Begleitheftes veröffentlichte. Teile der Zylinder sind inzwischen aber auch auf verschiedenen CD-Labels erschienen, einzelne kann man sogar auf youtube finden.
Die Tonqualität der Zylinder schwankt erheblich zwischen kaum anhörbar, bis relativ klarer Wiedergabe. Es bedarf schon eines geschulten Ohres und auch einer Kenntnis der zu hörenden Passagen, um daran Gefallen zu finden. Trotzdem fasziniert die Unmittelbarkeit des zu Hörenden, es öffnet sich ein Zeitfenster in eine versunkene Welt. Das New York des beginnenden 20. Jahrhunderts und sein verwöhntes Opernpublikum ist durch den mitgeschnittenen Applaus dokumentiert und wird für Augenblicke wieder lebendig. Ein Erlebnis!
Peter Sommeregger, Berlin, 17. Dezember 2019, für
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .