Sommereggers Klassikwelt 179: Die Biographie des Dirigenten Jascha Horenstein steht für die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts

Sommereggers Klassikwelt 179: Die Biographie des Dirigenten Jascha Horenstein  klassik-begeistert.de, 5. April 2023

von Peter Sommeregger

Am 2. April vor fünfzig Jahren starb der bedeutende Dirigent Jascha Horenstein in London, seiner Wahlheimat. Sein künstlerischer Werdegang und seine persönliche Biographie neben seinen künstlerischen Qualitäten machen ihn zu einem Zeitzeugen seiner bewegten Lebenszeit.

Geboren am 6. Mai 1898 im damals noch zum russischen Zarenreich gehörigen Kiew, wuchs Horenstein in einer gebildeten Familie jüdischen Ursprungs auf. Bereits 1906 übersiedelte die Familie nach Königsberg, 1911 nach Wien, woher Horensteins Mutter stammte.

Dort studierte er ab 1916 an der Musikakademie bei Joseph Marx und Franz Schreker, die beide erfolgreiche Komponisten waren. Als Schreker 1920 nach Berlin wechselte, folgte ihm der Schüler Horenstein dorthin. Sein Debüt als Dirigent hatte er allerdings 1922 in Wien. Wieder in Berlin, wurde er von Wilhelm Furtwängler gefördert, der ihm Dirigate bei den Berliner Philharmonikern ermöglichte.

Im Jahr 1929 wurde Horenstein Musikdirektor am Opernhaus Düsseldorf (heute Deutsche Oper am Rhein), wo er im Intendanten Walter Bruno Iltz einen ähnlich progressiven und weltoffenen Mitstreiter fand. Horenstein engagierte sich für die Werke seiner Zeitgenossen, unter seiner Leitung fanden am Düsseldorfer Haus zahlreiche Uraufführungen statt.

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte dem liberalen Intendanten Iltz und Jascha Horenstein aber schnell enge Grenzen. Richard Wagners 50. Todestag wurde im Deutschen Reich groß gefeiert, dass in Düsseldorf der Jude Horenstein Wagner dirigierte, missfiel den Machthabern, und der Druck auf Iltz wuchs, Horenstein zu entlassen. Vor einer Fidelio-Aufführung Anfang März 1933 forderte eine SA-Einheit Horensteins Ablösung. Er wurde beurlaubt, musste Düsseldorf verlassen, und siedelte nach Paris über. Von dort aus nahm er viele Angebote für Gastspiele an, die ihn bis nach Australien führten. Rechtzeitig vor Kriegsausbruch verlegte er seinen Wohnsitz nach New York, in den USA konnte er aber längere Zeit nur zweitklassige Orchester leiten, zu groß war die Konkurrenz namhafter ausgewanderter Fachkollegen.

Ab 1947 konnte man ihn wieder in Europa, vor allem in Frankreich als Dirigent erleben, in Deutschland dirigierte er wieder ab 1950. Eine späte Krönung erlebte seine Karriere in seiner neuen Wahlheimat Großbritannien, wo er das London Symphony Orchestra in zahlreichen Konzerten leitete. Erfreulicherweise existieren zahlreiche Mitschnitte von Konzerten, die von der BBC aufgenommen wurden. Der Schwerpunkt von Horensteins Konzerttätigkeit lag bei den Komponisten der Spätromantik, aber auch die Meister der so genannten Wiener Klassik standen häufig auf seinen Konzertprogrammen.

Seine auf Tonträgern erhältlichen Interpretationen von Symphonien Anton Bruckners, Gustav Mahlers und Franz Schuberts zeigen ihn als berufenen Sachwalter vor allem Mahlers, dessen Popularität zu dieser Zeit noch längst nicht den heutigen Stellenwert hatte. Auch die Symphonien Carl Nielsens, den er persönlich kannte, führte er mehrfach auf.

Bei einer Aufführung von dessen fünfter Symphonie in Minneapolis brach er 1971 zusammen. Musikern des Orchesters gelang es gerade noch ihn aufzufangen. Seine Ärzte warnten ihn, sein gewaltiges Arbeitspensum einzudämmen, aber das war seine Sache nicht. Sein Tod am 2. April 1973 in London setzte seiner Laufbahn ein Ende.

Jascha Horenstein gilt bis heute als unterschätzter Dirigent, was man beim Hören seiner Aufnahmen bestätigt findet. Trotz den Erfolgen seiner späten Jahre ist auch seine Laufbahn durch die Vertreibung aus Deutschland nachhaltig beeinträchtigt worden. Seine umfangreiche akustische Hinterlassenschaft lädt zu einer Beschäftigung mit seinen künstlerischen Fähigkeiten ein, und sei allen  Musikinteressenten wärmstens empfohlen!

Peter Sommeregger, 4. April 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.

Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

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